Neuigkeit 8. Juli 2024

Auswertung: Antisemitische Straftaten in Sachsen 2023 – Neuer Höchststand nach dem 7. Oktober

2023 kam es zu einem neuen Höchststand antisemitischer Straftaten in Sachsen. Die entscheidende Zäsur stellt der Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 dar. Ab diesem Zeitpunkt ist weltweit ein drastischer Anstieg antisemitischer Hetze und Gewalt zu beobachten. Das gilt auch für Sachsen: Neben einem deutlichen Anstieg der Vorfallszahlen zeigt sich auch eine neue Qualität des Antisemitismus.

Auswertung: Antisemitische Straftaten 2023

„Zuerst wurde überlegt: Wieder Koffer packen und auswandern. Aber wohin? Bis zum 7. Oktober war es so, dass, wenn es in Deutschland schwerer wird, wir wenigstens nach Israel fahren können. Aber jetzt nach dem 7. Oktober, […] wenn die ganze Welt sich gegen Israel stellt... Wir wissen noch nicht, wie das Ganze sich entwickelt.“
Interview mit Elena Tanaeva von der Jüdische Gemeinde zu Dresden, Juni 2024
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2023 zählten wir in Sachsen 274 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund. Das entspricht einem Anstieg von 57% im Vergleich zum Vorjahr.[1] Eine deutlich höhere Dunkelziffer ist anzunehmen. So fanden wir in der Chronik der Beratungsstelle für Betroffene rechter Gewalt SUPPORT[2] 26 weitere Vorfälle, in denen sich Antisemitismus in Wort und Tat äußerte. In der folgenden Auswertung orientieren wir uns lediglich an den von der Polizei erfassten Straftaten.[3]

Den Zugriff auf die polizeilich erfassten Daten verdanken wir den regelmäßigen Kleinen Anfragen der Landtagsabgeordneten Kerstin Köditz (Die Linke). Seit 2004 macht sie dadurch die im Rahmen des kriminalpolizeilichen Meldedienstes dem Landeskriminalamt Sachsen übermittelten antisemitischen Straftaten der Öffentlichkeit zugängig.

Fallzahlen 2023 nach Monaten

In den ersten drei Quartalen 2023 schien sich zunächst der Trend des Vorjahres fortzusetzen: ein leichter Rückgang der Fallzahlen auf hohem Niveau. So folgten auf durchschnittlich 15,75 monatlich begangene antisemitische Straftaten 2021 und 14,5 2022 in den ersten neun Monaten 2023 13,67 Straftaten pro Monat.

In dieser Tendenz bildet der 7. Oktober 2023 eine klare Zäsur. Von den 274 polizeilich erfassten Straftaten fanden über die Hälfte, nämlich 150, allein in den knapp 3 Monaten zwischen 7. Oktober und 31. Dezember statt. Dabei ist eine Zunahme antisemitischer Straftaten aus allen ideologischen Spektren zu verzeichnen. Der Großteil der Vorfälle in Sachsen weist aber nach wie vor einen rechten Hintergrund auf.

Anteil der aufgenommenen Straftaten nach Phänomenbereichen 2023

Insgesamt zählen wir für das Jahr 2023 204 antisemitische Straftaten mit rechtem Hintergrund. Mit einem Anteil von 97% an allen Straftaten überwogen diese bis zum 7. Oktober deutlich. Und obwohl auch nach dem 7. Oktober 84 rechtsmotivierte Taten verzeichnet wurden, wovon 71 allein im Oktober und November stattfanden, ging der Anteil rechter Straftaten für die Monate Oktober bis Dezember auf lediglich 56% zurück.

Anteil der aufgenommenen Straftaten nach Phänomenbereichen 2023 bis 7.10.
Anteil der aufgenommenen Straftaten nach Phänomenbereichen 2023 ab dem 7.10.

Grund hierfür ist eine sprunghafte Zunahme der Vorfälle außerhalb des rechten Spektrums. Neben dem Phänomenbereich „rechts“ werden polizeilich die Phänomenbereiche „links“, „Religiöse Ideologie“, „Ausländische Ideologie“ und „Sonstiges“ erfasst.[4] Während von Januar bis Oktober in diesen Phänomenbereichen 4 Vorfälle erfasst wurden, waren es von Oktober bis Dezember 66 Vorfälle. Davon wurden 39 Vorfälle dem Bereich „Ausländische Ideologie“ zugeordnet, 18 Vorfälle dem Bereich „Religiöse Ideologie“, sowie drei dem Bereich „links“. Weitere sechs fielen in den Phänomenbereich „Sonstiges“.

Delikte nach Strafgesetzbuch

Der am häufigsten erfasste Straftatbestand war phänomenübergreifend die sogenannte Volksverhetzung (§ 130 StGB). Sie wurde 142-mal aufgenommen. Typisch für den Straftatbestand sind Hasspostings im Internet, aber auch schriftliche und mündliche Äußerungen auf Versammlungen. 121 Vorfälle wurden dabei dem Phänomenbereich „rechts“ zugeordnet.  

An zweiter Stelle steht mit 52 Vorkommnissen das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen (§ 86a StGB). Hiervon waren 43 rechtsmotiviert.

An dritter Stelle der am häufigsten verübten Straftaten mit antisemitischer Motivation steht die Sachbeschädigung (§ 303 StGB). Bei den 22 Vorfällen handelte es sich zumeist um das Anbringen von Schriftzügen oder Symbolen im öffentlichen Raum. Auffällig ist hierbei, dass nur 10 der 22 Delikte dem Phänomenbereich rechts zugeordnet werden.

Betrachtet man das Verhältnis von digitalen und analogen Straftaten, so fällt ein deutlicher Unterschied zwischen den ideologischen Phänomenbereichen auf. Insgesamt zählten wir 159 analoge, sowie 115 digitale Delikte. 100 analoge sowie 104 digitale Vorfälle haben dabei einen rechten Hintergrund. D.h., während 63% der Straftaten im Analogen von Rechten begangenen werden, sind es im digitalen Raum 90%.

Im Verhältnis gering scheint die Anzahl von antisemitischen Gewaltdelikten[5] auszufallen. Dennoch ist auch hier ein Anstieg zu verzeichnen. Unter den 274 Straftaten finden sich insgesamt sechs, die wir als Gewalttaten definieren - im vergangegen Jahr zählten wir drei Vorfälle. Bei den Gewalttaten handelt es sich um einen Fall von einfacher Körperverletzung aus dem Phänomenbereich „rechts“ im Juni 2023, sowie zwei Vorfälle von Gefährlicher Körperverletzung aus den Phänomenbereichen „Religiöse Ideologie“ und „Ausländische Ideologie“ im Oktoer 2023. Des Weiteren wurden drei Vorfälle von Bedrohung verzeichnet. Davon ereignete sich einer im Januar 2023 aus rechter Motivation. Zwei weitere wurden im Bereich „Ausländische Ideologie“ verortet und ereigneten sich kurz nach dem 7. Oktober.

Obwohl der Großteil der eingegangenen Straftaten unterhalb unserer definitorischen Gewaltschwelle liegt, transportieren sie deutlich gewaltvolle und bedrohende Botschaften an die Betroffenen und haben enorme Auswirkungen auf ihren Alltag. In der polizeilichen Dokumentation und Einordnung der Taten gehen die symbolischen Wirkungen und psychologischen Folgen für Betroffene meist unter. So kann der Tatbestand der „einfachen Sachbeschädigung“ die Auswirkungen der mit antisemitischen Schriftzügen markierten Wohnungstür für die Bewohnenden nicht erfassen. Ebenso wird der Tatbestand des „Diebstahls und Unterschlagung geringwertiger Sachen“ den Auswirkungen für Betroffene nicht gerecht, die das aufwendige Entwenden einer Mesusa[6] vom Türrahmen bedeuten kann.

Insbesondere wenn sie an der Schwelle des privaten Rückzugsortes stattfinden, können Taten dieser Art erhebliche psychische Belastungen verursachen. Neben der Drohgebärde, dass Täter:innen Kenntnis über den Wohnort von Betroffenen haben, lassen sich in diesen Vorfällen auch Parallelen zu Praktiken des Nationalsozialismus feststellen - wie etwa dem Markieren jüdischer Wohnungen und Geschäfte mit Davidsternen.

„Wird das so weiter gehen, sehe ich, dass sich viele Juden, insbesondere die jüngeren, mit der Auswanderung nach Israel beschäftigen werden. Und das wohl auch in die Tat umsetzen.“
Interview mit Uwe Kuhnt von Chabad Lubawitsch Sachsen, Mai 2024
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Fallzahlen 2023 nach Landkreisen
Fallzahlen pro 100 000 Einwohner:innen 2023

Regional lassen sich deutliche Unterschiede in der Anzahl und Häufigkeit der antisemitischen Straftaten ausmachen. Mit 80 Vorfällen sticht die Landeshauptstadt Dresden deutlich hervor, gefolgt von Leipzig mit 49 Vorfällen, Chemnitz mit 25, dem Erzgebirgskreis mit 22, dem Landkreis Leipzig Land mit 14 sowie dem Landkreis Sächsische Schweiz / Osterzgebirge und dem Vogtlandkreis mit jeweils 13. In den restlichen Landkreisen ereigneten sich 12 Vorfälle oder weniger.

Das Ranking der Städte und Landkreise bestätigt sich weitestgehend auch mit Blick auf die begangenen Straftaten je 100.000 Einwohner:innen: Auf 14,9 Straftaten je 100.000 Einwohner:innen in Dresden, folgen 10 in Chemnitz, 7,9 in Leipzig sowie 6,7 im Erzgebirgskreis, 5,9 im Vogtlandkreis, 5,4 in Leipzig Land und 5,3 im Landkreis Sächsische Schweiz / Osterzgebirge. Einzig der Landkreis Nordsachsen vermag sich mit 6 Vorfällen je 100.000 Einwohner:innen (absolut: 12) weit ins vordere Feld der unrühmlichen Spitzengruppe zu schieben.

Hervorzuheben ist hierbei die Häufigkeit antisemitischer Straftaten in Dresden. Während 2022 noch 4,8 Fälle pro 100.000 Einwohner:innen aufgenommen wurden, hat sich diese Zahl im Laufe eines Jahres mehr als verdreifacht. In keiner anderen Stadt und keinem anderen Landkreis sind nur annähernd solche Dynamiken zu sehen.

Auch in Bezug auf den ideologischen Hintergrund sind Unterschiede zwischen den Städten und Landkreisen sichtbar. So waren 76% der Vorfälle in Dresden rechtsmotiviert, in Leipzig 55% und in Chemnitz 48%. Besonders tritt auch eine Differenz zwischen Chemnitz und Dresden bei den digitalen Straftaten hervor. Während für Dresden 85% digitale Straftaten mit rechtem Hintergrund gemeldet wurden, waren es in Chemnitz lediglich 33%. Eine Erklärung hierfür könnten z.B. Unterschiede in der digitalen Strafverfolgung bei den beiden Polizeidirektionen sein, die Differenz könnte aber auch ein Anzeichen für einen größeren antisemitismuskritischen Medienaktivismus in bzw. mit Fokus auf Dresden sein. 

Juristische Aufarbeitung

Ein Blick auf die Verurteilungen antisemitischer Straftaten zeigt eine erhebliche Differenz auf zwischen der Anzahl aufgenommener Straftaten und den schließlich durch einen Schuldspruch abgeschlossenen Verfahren. Den 274 Vorfällen, die 2023 aufgenommen wurden, stehen 20 Verurteilungen im selben Zeitraum gegenüber. Aufgrund der teils mehrjährigen Verzögerung der juristischen Aufarbeitung von Straftaten kann eine Bewertung, wie sich die Ereignisse nach dem 7. Oktober in der juristischen Aufarbeitung niederschlagen, zu diesem Zeitpunkt nicht erfolgen.

„Schon jetzt haben die meisten jüdischen Menschen Angst, sich offen als Juden zu zeigen. Sie tragen keine Kippa oder andere Symbole, sprechen möglichst kein Hebräisch in der Öffentlichkeit. All das beschränkt sich auf die Gemeinde, sie ist unser „Safe-House“. Wird sich die öffentliche Meinung im Zuge der Wahlen weiter radikalisieren, denke ich, dass sich diese Tendenzen weiter verstärken.“
Interview mit Uwe Kuhnt von Chabad Lubawitsch Sachsen, Mai 2024
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Insgesamt zeichnet sich in den Fallzahlen eine alarmierende Trendwende ab. Nach einem einmaligen leichten Rückgang der Fallzahlen auf hohem Niveau (2021: 189, 2022: 174) führte der 7. Oktober auch in Sachsen zu einem schlagartigen Anstieg und legte den Antisemitismus in weiten Bereichen der Gesellschaft offen. Besorgniserregend ist dabei der hohe Anteil rechtsmotivierter Taten, von welchem angesichts der extrem rechten Wahlerfolge und des sich gesellschaftlich weiter zuspitzenden Klimas kein Rückgang zu erwarten ist. Neben der allgemeinen Zunahme an Vorfällen ist besonders der Anstieg der Gewalttaten beunruhigend: So ereigneten sich 4 von 6 Fällen, die wir als Gewaltdelikte einordneten, nach dem 7. Oktober.

Vor diesen Zahlen wird deutlich, was Jüdinnen:Juden in Sachsen bereits seit langem schildern. Schon vor dem 7. Oktober konnte jüdisches Leben in Sachsen nur eingeschränkt und mit hohen Sicherheitsmaßnahmen stattfinden. Seit dem 7. Oktober jedoch ist der grassierende Antisemitismus in Sachsen nochmal spürbarer geworden und führt zu starken Alltags-Einschränkungen für viele Betroffene. Dies ist umso schlimmer, da sich zum rechten und verschwörungsideologischen Antisemitismus neue Akteur:innen und Formen des Antisemitismus gesellen, die die Frage stellen, mit wessen Solidarität Jüdinnen:Juden in Sachsen überhaupt noch rechnen können.



[0] Die Zitate stammen aus Interviews, die im Rahmen der Inititiative #SolidarischWählen vom Bündnis gegen Antisemitismus in Dresden und Ostsachen geführt wurden.

[1] Kleine Anfragen der sächsischen Landtagsabgeordneten Kerstin Köditz (Die Linke) „Straftaten in den Phänomenbereichen der „Politisch motivierten Kriminalität“ (PMK)“ von Januar 2023 bis Januar 2024

[2] Chronik der Opferberatungsstelle SUPPORT vom RAA Sachsen e.V.

[3] Bei der Datengrundlage ist zu beachten, dass es sich bei den polizeilichen Meldungen um eine vorläufige Eingangsstatistik handelt. Erfahrungsgemäß können Fälle aus der Statistik zu einem späteren Zeitpunkt herausfallen, beispielsweise durch Dopplung, Zusammenführung oder die Beurteilung der Staatsanwaltschaft.  

[4] Die genannten Phänomenbereiche der Polizei sind nicht ohne weiteres selbsterklärend, daher folgt hier eine kurze Einordnung: Der Kategorie „Religiöse Ideologie“ werden Straftaten zugeordnet, „bei denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine religiöse Ideologie entscheidend für die Tatbegehung war und die Religion zur Begründung der Tat instrumentalisiert wurde.“ Da Straftaten innerhalb der Kategorie von der Abteilung „Islamistisch motivierter Terrorismus/Extremismus“ bearbeitet werden, handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach ausschließlich um Straftaten, die islamistisch begründet sind. Als wichtige Gruppierungen gelten u.a. der Islamische Staat, Al-Quaida, Al-Shabab, Hamas und Hisbollah. Unter dem Phänomenbereich „Ausländische Ideologie“ werden Straftaten zusammengefasst, bei denen „in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine aus dem Ausland stammende nichtreligiöse Ideologie entscheidend für die Tatbegehung war, insbesondere wenn sie darauf gerichtet ist, Verhältnisse und Entwicklungen im In- und Ausland zu beeinflussen.“ Die Spannweite der politischen Akteur:innen, deren Taten in diesem Phänomenbereich aufgeführt werden, kann im Zweifel von der PKK bis hin zu den Grauen Wölfen reichen. Damit ist nicht gesagt, dass es sich bei den Täter:innen immer um Ausländer:innen handeln muss. Ebenso wenig Aufklärungspotential über die konkreten Ideologien und Hintergründe der Täter:innen bietet die Kategorie „Sonstiges“. So ist auffällig, dass dieser Kategorie auch Straftaten zugeordnet werden, deren weitere Tatumstände ein rechtes Motiv nahelegen. Vor allem während der Anti-Corona-Proteste wirkte diese Kategorie (damals: „Nicht zuzuordnen“) wie ein Auffangbecken von politischen Straftaten, vor deren klarer Einordnung politisch zurückgeschreckt wurde.

[5] Dabei orientieren wir uns an der Gewaltdefinition der Beratungsstelle SUPPORT vom RAA Sachsen e.V. Diese definiert Gewalt als „physische Gewalt einschließlich des Versuchs, Körperverletzungs- und Tötungsdelikte, Brandstiftung und Raubstraftaten. Nötigungen, Bedrohungen und zielgerichtete Sachbeschädigungen mit erheblichen Folgen für die Betroffenen gelten ebenso als Gewalttaten.“

[6] Eine Mesusa ist eine am Türrahmen jüdischer Haushalte und Einrichtungen befestigte Schrifthülse, die symbolisch für den Schutz des Hauses steht.

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