Rechtsmotivierte, rassistische und antisemitische Gewalt in Sachsen 2021
189 rechtsmotivierte, rassistische und antisemitische Angriffe zählten die Opferberatungsstellen in Sachsen im Jahr 2021 – etwas weniger (-9%) als im Vorjahr (208). Von diesen Angriffen waren mindestens 261 Menschen direkt betroffen. Seit Jahren liegt die Anzahl der Angriffe in Sachsen auf ähnlichem Niveau. 2021 war wie bereits das Vorjahr geprägt durch die Corona-Pandemie, die sich in zweierlei Hinsicht auf rechte, rassistische und antisemitische Gewalt auswirkte.
189 rechtsmotivierte und rassistische Angriffe zählten die Opferberatungsstellen in Sachsen im Jahr 2021 – etwas weniger (-9%) als im Vorjahr (208). Von diesen Angriffen waren mindestens 261 Menschen direkt betroffen.
Seit Jahren liegt die Anzahl der Angriffe in Sachsen auf ähnlichem Niveau. In den Jahren 2015 und 2016 sowie 2018 nahmen insbesondere rassistische Angriffe deutlich zu.
2021 war wie bereits das Vorjahr geprägt durch die Corona-Pandemie, die sich in zweierlei Hinsicht auf rechte, rassistische und antisemitische Gewalt auswirkte: einerseits bewirkte die Beruhigung des Alltagslebens durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Virusverbreitung einen Rückgang der Angriffe, allerdings bringen dieselben Maßnahmen ein neues Phänomen rechtsmotivierter Gewalt hervor – politische Verantwortungsträger*innen, Mitarbeiter*innen von Test- und Impfzentren oder Zug-, Laden- und Gastronomiepersonal, das auf die Maskenpflicht hinweist, werden auf Basis rechter Verschwörungsideologien als politische Gegner*innen konstruiert und angegriffen.
So wurde der Altenberger Bürgermeister mit dem Tode bedroht, sodass die Stadtratssitzung unter Polizeischutz stattfinden musste. An einem Impfzentrum im Vogtland verübten Unbekannte einen Brandanschlag, ein mobiles Impfteam in Dresden wurde mit Pyrotechnik angegriffen. Auf die Aufforderung eine Maske zu tragen reagierte ein Mann in einer Dresdner Straßenbahn mit Drohungen, versuchten Schlägen und dem Zeigen des Hitlergrußes.
Hinzu kommen Fälle im Kontext Corona, in denen Rassismus offenbar die Tat eskalierte. So reagierte die Kundin eines Supermarktes in Leipzig auf die Aufforderung die Maske richtig zu tragen, indem sie einer Kassiererin einen harten Gegenstand gegen den Kopf warf und einen Security-Mitarbeiter rassistisch beleidigte. Der Gast eines Restaurants in Dresden beantwortete die Frage nach dem Impfnachweis mit rassistischen Beleidigungen, Bedrohungen und versuchten Schlägen.
Aber auch Angriffe im Umfeld von Demonstrationen nahmen im zweiten Corona-Jahr wieder zu. Bei sogenannten „Spaziergängen“ wurden Gegendemonstrierende aber vor allem auch Journalist*innen angegriffen.
Die Dunkelziffer bei Angriffen im Corona-Kontext dürfte groß sein. Von vielen Fällen insbesondere Bedrohungen und Angriffen gegen Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen oder auch Laden- und Gastronomiepersonal haben wir nicht erfahren. Die Einordnung ist zum Teil für die Betroffenen selbst nicht einfach, das Tatmotiv ist nicht immer klar auszumachen, ebenso die Zuordnung als rechtsmotiviert. Zudem bleiben zahlreiche Fälle unterhalb der Gewaltschwelle. So wurden uns viele Fälle nicht gemeldet oder aber die Informationen zu Fällen sind nicht ausreichend um diese sicher einordnen zu können.
Welche Fälle mit Coronabezug werten wir als rechtsmotivierte Gewalt?
Wir haben nach intensiver Diskussion und anhand konkreter Fälle festgelegt, Gewaltfälle mit Coronabezug als rechte Gewalt zu werten und in der Statistik zu zählen, wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind. Dabei betrachten wir – wie generell bei unserer Definition rechtsmotivierter Gewalt - drei Dimensionen der Tat: die Politische Verortung des*der Täter*in (1), die Umstände der Tat (2), die Auswahl der Betroffenen (3).
(1) Entweder es ist eine Organisierung in rechten Gruppierungen bekannt, oder eine Zuordnung ergibt sich aus Kleidung, Tattoos oder Symboliken. Oder aber es kann von einer ideologischen Verbundenheit mit dem rechten Milieu ausgegangen werden, weil Täter*innen an rechten Demonstrationen teilgenommen haben oder sich in Social Media entsprechend vernetzen. Von einer solchen Milieuzugehörigkeit kann ebenfalls ausgegangen werden, wenn rechte Einstellungen durch Äußerungen vor, während oder nach der Tat zum Ausdruck gebracht werden.
(2) Lässt sich die politische Verortung nicht explizit klären, können die Umstände der Tat Hinweise auf rechte Ideologien als Tatmotiv liefern. So spricht die Tatdynamik für eine entsprechende Verortung, wenn wir davon ausgehen, dass ein Faustschlag als Reaktion auf die Aufforderung Maske zu tragen nicht verhältnismäßig ist und diese Überreaktion aus einer Verfestigung und Radikalisierung im Zuge der Proteste gegen die Maßnahmen zur Einschränkung der Coronapandemie resultiert.
„Die Täter:innen müssen nicht aktiv ins verschwörungsideologische Milieu eingebunden sein, ihre Feindbilder stammen aber daher. Die Maske ist eigentlich ein neutraler Gegenstand, ein Medizinprodukt, um die Übertragung von Krankheitserregern zu reduzieren. In der Pandemie wurde sie durch das verschwörungsideologische und rechtsextreme Milieu politisiert und zum Feindbild stilisiert, das für die angebliche Unterdrückung steht. Wer die Maske trägt, ist direkt als „Feind“ erkennbar. Umgekehrt ist die Verweigerung des Masketragens eine sehr einfache Möglichkeit, sich als Widerstandskämpfer zu inszenieren.“ https://cemas.io/blog/verschwoerungsideologische-moblisierung/
Die Demonstrationen wie auch die Social Media Vernetzung insbesondere über Telegram sind in Sachsen klar rechts einzuordnen. Das ist an verbreiteten Inhalten, organisierenden, mobilisierenden und teilnehmenden Gruppen festzumachen, wie an auftretenden Redner*innen. Zum Ausdruck kommen rechte Ideologieelemente wie Sozialdarwinismus, Antisemitismus, die Ablehnung demokratischer Prozesse und gesellschaftlicher Solidarität, die Ablehnung demokratischer Institutionen, wie politische Verantwortungsträger*innen, Parlamentarier*innen oder Presse. Kolportiert werden Verschwörungsideologien, die eine von geheimen Mächten gesteuerte Elite verantwortlich machen, mit einem erfundenen Virus „das Volk“ unterdrücken zu wollen. Der Kampf gegen die Maßnahmen wird zum Freiheitskampf. Neben ausgeprägten Verschwörungsideologien, gibt es weitere Varianten: Das Virus gibt es ebenso wie die Pandemie, aber das ist nicht schlimm, wenn man jung und gesund ist. Die, die sterben, waren das nicht, deshalb ist es für eine Gesellschaft nicht nötig zu intervenieren. Das Virus gibt es ebenso wie die Pandemie, aber die Stimmung lässt sich gut nutzen um gegen demokratische Institutionen und gesellschaftliche Solidarität zu agitieren und für die eigene autoritäre/faschistische Ideologie empfänglich zu machen.
(3) Betroffen von diesen Angriffen sind diejenigen, denen durch die Täter*innen bestimmte Rollen, Positionen oder Handlungen zugeschrieben werden. Sie werden als Feind konstruiert und stellvertretend angegriffen: Gegendemonstrant*innen, Journalist*innen im Kontext von Demonstrationen, Zugbegleiter*innen, Kassierer*innen, Laden- oder Gastronomiebetreiber*innen etc., die auf die Maskenpflicht hinweisen oder 2 bzw. 3G Nachweise kontrollieren, Personal in Impf- oder Testzentren, im Gesundheitswesen, Ärzt*innen. Im aktuellen Diskurs findet also zusätzlich zu vorhandenen Ideologien der Ungleichwertigkeit eine Feindbildkonstruktion auf Basis der beschriebenen Verschwörungsideologien statt. Die Betroffenen werden „dem System“ zugeordnet, die sich mit der Aufforderung Maske zu tragen oder durch ihre aktive Beteiligung am Impfen, gegen „das Volk“ stellen. Sie werden zu politischen Gegner*innen erklärt. Sozialdarwinismus und Antisemitismus spielen in dieser Feindbildkonstruktion als Ideologieelemente ebenso eine Rolle wie klassische rechte Denkmuster der Ablehnung demokratischer Prozesse und Institutionen.
Weiter informieren:
CeMAS-Studie: Das Protestpotential während der COVID-19-Pandemie
CeMAS: Einschätzung zur verschwörungsideologischen Mobilisierung
Netzwerk Tolerantes Sachsen: Die „Corona-Proteste“ in Sachsen werden von Demokratiefeinden geprägt
EFBI: Verschwörungsmentalität als Reaktion auf ein gesellschaftliches Unbehagen
IDZ: Wissen schafft Demokratie 09/2021 - Demokratiegefährdungen in der Coronakrise
Die Zahlen im Überblick
Von den 189 Angriffen sind mindestens 261 Menschen direkt betroffen gewesen. Zum größten Teil waren dies Männer (133) und in erster Linie Erwachsene (144), aber auch Jugendliche (34) und Kinder (18) wurden aus rechten Motiven angegriffen.
Der Anteil der Fälle, in denen Anzeige erstattet wurde, erreicht nicht wie in den zurückliegenden Jahren einen Anteil von ca. ¾. In nur 68% der Fälle, d.h. 129, sind nachweislich polizeibekannt, lediglich 27 wurden nicht angezeigt, in 33 Fällen ist es nicht bekannt. Von diesen 129 polizeibekannten Gewalttaten sind aktuell gerade einmal 64 Fälle auch offiziell als PMK rechts gewertet, soweit dies aus den vom Innenministerium im Zuge monatlicher kleiner Anfragen im Sächsischen Landtag herausgegebenen Straftaten im Phänomenbereich "Politisch motivierte Kriminalität - rechts" hervorgeht.
Die Schwerpunkte rechtsmotivierter Gewalttaten liegen auch 2021 wieder in den Großstädten Leipzig (46, -30%)und Dresden (49, -6%), sowie Chemnitz (16, 0%). Die Statistik für die Stadt Leipzig ist in Kooperation mit der Opferberatung der RAA Leipzig e.V. entstanden.
Auch die Landkreise Leipzig (-28%) und Zwickau (0%) sind mit 13 Angriffen erneut Schwerpunktregionen in Sachsen, gefolgt von den Landkreisen Nordsachsen mit 12 und Sächsische Schweiz-Osterzgebirge mit 9 Angriffen. Im Landkreis Nordsachsen ist im Jahr 2021 eine Verdopplung der Angriffe zu verzeichnen gewesen. Auch im Erzgebirgskreis hat sich die Angriffszahl mehr als verdoppelt auf 7, ein Fall weniger als im Landkreis Bautzen. Hier blieb die Situation fast unverändert, ebenso wie im Vogtland mit 6 Angriffen. Genauso viele Fälle wurden für den Landkreis Meißen gezählt, was eine Verdreifachung zum Vorjahr bedeutet. Die wenigsten Angriffe wurden 2021 in den Landkreisen Görlitz (3) und Mittelsachsen (1) registriert.
Im Verhältnis zur Einwohner*innenzahl bleibt das Bild der Schwerpunkte rechter Gewalt in Sachsen fast unverändert. Je 100.000 Einwohner*innen wurden in Dresden 9,3, in Leipzig 8,8 und in Chemnitz 6,6 Angriffe verübt. Der Landkreis Nordsachsen schiebt sich mit 6,0 Angriffen noch vor die Landkreise Leipzig und Zwickau, während der Erzgebirgskreis (2,0) im Verhältnis zur Einwohner*innenzahl hinter dem Landkreis Meißen (2,5) liegt.
Tatmotive
2021 wurden knapp die Hälfte der Angriffe (88) aufgrund von Rassismus, darunter antimuslimischer, antiromaistischer und antischwarzer Rassismus, verübt. 53 Angriffe richteten sich gegen politische Gegner*innen, darunter 16 gegen Journalist*innen. Im Vergleich zum Vorjahr ist hier eine deutliche Zunahme zu verzeichnen (+36%). In 26 Fälle richtete sich die Gewalt gegen Nichtrechte und Alternative, in acht Fällen gegen Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung/geschlechtlichen Identität. Vier Angriffe waren gegen Menschen mit Behinderung gerichtet, drei waren antisemitisch motiviert. In fünf Fällen blieb das konkrete Tatmotiv unklar, zumeist aufgrund mangelnder Angaben zum Themenfeld in den Antworten auf die monatlichen kleinen Anfragen zu PMK rechts im Sächsischen Landtag.
Straftatbestände
Überwiegend handelte es sich bei den Angriffen 2021 um Körperverletzungsdelikte (145). Neben einfachen (66) und gefährlichen Körperverletzungen (76) sind darunter drei Körperverletzungen im Amt. Drei Brandstiftungen wurden verübt. In 37 Fällen handelte es sich um Nötigung oder Bedrohung. Zudem wurden zwei massive Sachbeschädigung und zwei Sonstige Gewalttaten, wie Raub oder Landfriedensbruch, verübt.
Angriffsorte
2021 wurde ca. ein Drittel (58) der Angriffe im öffentlichen Raum verübt, weniger häufig als in den zurückliegenden Jahren. Mit 26 Angriffen auf Wohnungen bzw. im Wohnumfeld bleibt dieser Tatort auch 2021 zentral. Mit 33 Angriffen im Umfeld von Demonstrationen sind diese weiter gestiegen. Weitere 26 Angriffe wurden in öffentlichen Verkehrsmitteln oder an Bahnhöfen und Haltestellen verübt.
Beratung Betroffener rechtsmotivierte und rassistischer Angriffe 2021
2021 unterstützten, begleiteten und berieten die Beratungsstellen des RAA Sachsen e.V. in insgesamt 257 (2020: 263) Beratungsfällen. In diesen wurden 345 Menschen unterstützt, sowohl Betroffene als auch Angehörige, Freund*innen oder Zeug*innen. Ein Beratungsfall wird in der Jahressstatistik dann gezählt, wenn mindestens eine Unterstützungsleistung im Berichtsjahr erfolgt ist. In der Beratungsstatistik des RAA Sachsen e.V. werden Fälle, die durch den RAA Leipzig e.V. beraten werden, nicht berücksichtigt. In der Stadt Leipzig bieten sowohl der RAA Sachsen e.V. als auch der RAA Leipzig e.V. Beratung für Betroffene rechtsmotivierter und rassistischer Gewalt.
192 dieser Beratungsfälle wurden im Jahr 2021 neu begonnen, 65 stammen aus den zurückliegenden sechs Jahren, vor allem aus 2020 und 2019.
118 der laufenden Beratungsfälle konnten abgeschlossen werden
139 sind weiterhin fortlaufende Fälle
In 155 dieser Beratungsfälle war ein Angriff Anlass für Betroffene, Unterstützung zu suchen
102 dieser Beratungsfälle hatten einen anderen Beratungsanlass, z.B. Bedrohungen unterhalb der Gewalttat, Beleidigung, Diskriminierung oder rechtliche Fragen.
Die 155 Angriffe, die den Beratungsfällen zugrunde liegen, stammen nicht alle aus dem Jahr 2021. Es können ebenso Angriffe aus vergangenen Jahren sein, deren Betroffene jedoch noch immer von den Beratungsstellen unterstützt werden. Ein Beratungsfall kann sich je nach polizeilicher Aufklärung, juristischer Strafverfolgung oder notwendiger psychosozialer Beratung über mehrere Jahre erstrecken.
75 der 155 Angriffe, die Anlass von Beratungsfällen sind, fanden im Jahr 2021 statt. Das heißt auch, dass in 40% der im Jahr 2021 gezählten Angriffe (189) Betroffene Beratung des RAA Sachsen e.V. in Anspruch nahmen.
Bei den 155 Angriffen, die Anlass einer Beratung waren, handelt es sich vor allem um rassistisch motivierte Körperverletzungsdelikte. Auch in zwei zurückliegenden Mordfällen wurde beraten.
Beratungsnehmende
Beratung nahmen sowohl 345 Betroffene in Anspruch: 256 direkt Betroffene, 24 Mit-Angegriffene, sowie 65 Angehörige, Freund*innen, Zeug*innen, Personen des weiteren sozialen Umfelds in Anspruch. Die Beratungsnehmenden im Jahr 2021 waren zur Hälfte männlich zwischen 18 und 40 Jahren alt.
Unterstützungsleistungen
Zu den Beratungstätigkeiten der Opferberatungsstellen gehören vor allem Beratungsgespräche, Unterstützung bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht, die Begleitung zur Polizei oder zu Gerichtsverfahren. Außerdem vermitteln und begleiten die Berater*innen zu Rechtsanwält*innen oder auch Ärzt*innen und Psycholog*innen. Auch die Vermittlung zu weiteren passenden Angeboten gehört dazu, aber auch Unterstützung im Entschädigungsverfahren oder in der fallbezogenen Öffentlichkeitsarbeit.