Stellungnahme anlässlich des Gedenkens am 9. November 2022
Heute vor 84 Jahren begann auch in Dresden, was in seinem gesamten Ausmaß noch immer nicht vom kollektiven Gedächtnis Deutschlands gefasst wird: die reichsweite antisemitische Pogromwoche des Novembers 1938. ...
... Denn anders als über Jahrzehnte im bundesrepublikanischen Erinnerungsdiskurs kultiviert, handelte es sich bei den Ereignissen im November 1938 nicht nur um die ‚Scherbennacht‘ vom 9. auf den 10. November, in deren Verlauf tausende Einrichtungen jüdischen Religions- und Kulturlebens sowie jüdische Geschäfte gebrandschatzt und geplündert wurden, sondern um einen koordinierten und tagelang währenden Gewaltexzess gegen als Jüdinnen*Juden Verfolgte, der zu Recht als „größter öffentlicher Terror auf deutschem Boden“ bezeichnet wurde.[1] Dieser Tatsache und ihren Opfern wollen wir als Bündnis gegen Antisemitismus in Dresden und Ostsachsen mit dem folgenden Text gedenken.
Das Novemberpogrom: Geschichte und Ausmaß
Wie konnte es soweit kommen? Und welches Ausmaß hatte die Gewalt in jenen Tagen des Novembers 1938 wirklich? Bereits unmittelbar nach der Machtübergabe an die NSDAP im Januar 1933 begann diese ihr antisemitisches Programm in die Tat umzusetzen. Als Jüdinnen*Juden Verfolgte wurden durch die NS-Propaganda zu Feind*innen erklärt und durch Boykotte, Berufsverbote und die rassistischen Nürnberger Gesetze von 1935 systematisch zu politischen und gesellschaftlichen Außenseiter*innen degradiert. Im Frühjahr 1938 erfuhr die Ausgrenzungspolitik eine weitere Radikalisierung und zielte statt auf Ausgrenzung allein auch auf Enteignung und Vertreibung. Wie diese durch staatlich orchestrierte Gewalt forciert werden könnten, erprobte das Regime bereits zu verschiedenen Anlässen: Auf die Anschlusspogrome in Österreich im März 1938 folgten antisemitische Zerstörungen während der ‚Sudetenkrise‘ in der Tschechoslowakei sowie die Juni-Aktion und die Polen-Aktion im Oktober 1938, während derer tausende Deutsche und Pol*innen aus antisemitischen Motiven zur Zwangsarbeit interniert oder außer Landes deportiert wurden. Den konkreten Anlass, um zum „Höhepunkt der offenen und öffentlichen Gewalt“[2] gegen die als Jüdinnen*Juden Verfolgten zu schreiten, bot schließlich die Polen-Aktion selbst. Als Herschel Grynszpan, der 1936 vor der antisemitischen Politik im Dritten Reich nach Frankreich geflohen war, Anfang November von der Deportation seiner in Hannover lebenden Eltern erfuhr, beschloss er, dass er gegen diese „Tragödie […] auf eine Weise protestieren“ müsse, „dass die ganze Welt meinen Protest hört“.[3] Im Widerstand gegen die Taten des Nationalsozialismus ging Herschel Grynszpan am 7. November in die deutsche Botschaft nach Paris und feuerte mehrere Schüsse auf den dritten Botschaftssekretär Ernst vom Rath. Am 9. November erlag dieser seinen Verletzungen.
Zu diesem Zeitpunkt war der Plan zur Inszenierung eines spontanen Ausbruchs des ‚Volkszorns‘ längst gefasst. Bereits seit dem 7. November verbreitete die gleichgeschaltete Presse unter Federführung von Reichspropagandaminister Goebbels die Mär eines durch Grynszpan ausgeübten Attentats des ‚Weltjudentums‘ und drohte mit Vergeltung. Die Blaupause für den Ablauf des Pogroms stellten dabei die antisemitischen Ausschreitungen in Kurhessen, wo mit dem Eintreffen der Nachricht vom Attentat auf Ernst vom Rath seit dem Nachmittag des 7. November zivil gekleidete Mobs von SA, SS und NSDAP-Mitgliedern die Zerstörung von Synagogen sowie jüdischen Wohnungen, Geschäften und Schulen betrieben. In Kurhessen kam es auch zum ersten Todesopfer des Pogroms: Am Abend des 8. November verstarb Robert Weinstein an den Folgen der Misshandlungen, deren Opfer er in seinem Wohnort Felsberg, südlich von Kassel, wurde.
Am Abend des 9. November entfesselte Goebbels schließlich den reichsweiten Terror, als er bei einer Rede vor den ‚Alten Kämpfern‘ anlässlich des 15. Jahrestages des Hitler-Ludendorff-Putsches im Münchner Bürgerbräukeller den Tod von Ernst vom Rath bekannt gab und indirekt zu Gewaltakten gegen die als Jüdinnen*Juden Verfolgten aufforderte. Das Ergebnis des reichsweiten Gewaltexzesses, der erst mit einer bis zum 16. November andauernden Massenverhaftung zu Ende ging: etwa 1.400 zerstörte Synagogen und Gebetsräume, mehr als 10.000 demolierte Geschäfte und Betriebe, bis heute ungezählte Verwüstungen von Wohnungen, Schulen und Friedhöfen, circa 31.000 Internierungen in Konzentrationslagern und nicht zuletzt mehr als 1.000 Tote, die durch Mord, Totschlag, Suizid oder an den Folgen von Misshandlung und Inhaftierung starben.[4]
Der erinnerungspolitische Diskurs: Vereinfachung, Verharmlosung, Verjährung?
Gerade die menschlichen Opfer, die das Novemberpogrom 1938 forderte, erfahren im öffentlichen Erinnerungsdiskurs nicht die Anerkennung und Anteilnahme, die sie verdienen. Beispielhaft hierfür kann die letztjährliche Berichterstattung der lokalen Presse herangezogen werden, in der dem eigentlichen Anlass kaum ein Satz gewidmet und den Toten keine bzw. nur verklausuliert Beachtung geschenkt wurde.[5] Wie aber sollen aus den Verbrechen des Nationalsozialismus die vielbeschworenen Lehren für die Gegenwart gezogen werden, wenn schon ihre bloße Vermittlung nicht auf Präzision und Vollständigkeit, sondern auf Reduktion und Verdichtung beruht?
Welche fatalen Auswirkungen diese Vereinfachung der Geschichte zeitigen kann, haben die letzten Jahre nur allzu deutlich unter Beweis gestellt. Im Zuge der sogenannten Anti-Corona-Proteste erlebte die Verharmlosung der nationalsozialistischen Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik ein in dieser Breite für unmöglich gehaltenes Wiederaufleben. Staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wurden mit der Gleichschaltung unter dem Nationalsozialismus verglichen, Ungeimpfte wähnten sich als die neuen ‚Juden‘ und auf Protestkundgebungen von Querdenken stilisierte man einen Widerstandskampf vergleichbar mit dem gegen das NS-Regime.
Nach Vorläufern dieser Praxis, die mit der Verschiebung gesellschaftlicher Wahrnehmungen die Anwendung drastischer Mittel gegen politische Gegner*innen zu legitimieren versucht, muss man in Sachsen nicht lang suchen. Bereits seit 2005 provozieren Neonazis hier öffentlichkeitswirksam mit dem Begriff des ‚Bombenholocaust‘, mit dem die Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg mit der industriellen Massenvernichtung der als Jüdinnen*Juden Verfolgten auf eine Stufe gestellt werden soll. Doch egal ob die Verharmlosung der Shoa von Neonazis oder vermeintlich liberalen Bürger*innen erfolgt, ihre Wirkung auf die Überlebenden und Hinterbliebenen ist immer die gleiche: Sie reißt Wunden und nivelliert die spezifischen Erfahrungen, die sie in der Zeit des Nationalsozialismus als ‚Vogelfreie‘ machen mussten.
In Anbetracht eines dramatischen Anstiegs des – nicht nur auf Schuldabwehr zielenden – Antisemitismus in Wort und Tat muss schließlich auch eine zweite Frage an den Erinnerungsdiskurs gestellt werden. Und diese richtet sich an die Jahr für Jahr von verschiedenen Politiker*innen geäußerten Aufrufe zum Engagement gegen Antisemitismus und zur Solidarität mit seinen Betroffenen: Als wie ernsthaft können solche Worte mit Blick auf die gesellschaftlichen Realitäten erachtet werden?
Zwei Beispiele: Am 9. November 2021 sprach der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer bei einer Gedenkveranstaltung in der Neuen Synagoge in Dresden die folgenden Worte: „Es geht uns alle an, wenn es wieder antisemitische Anfeindungen, Pöbeleien und Gewalttaten gibt in diesem Land. Dem stellen wir uns gemeinsam mit großer Entschlossenheit entgegen“.[6] Gewiss, es ist einiges geschehen in Sachsen: Ein gemeinsamer Leitfaden von Polizei und Staatsanwaltschaft mit dem Titel „Antisemitische Straftaten erkennen und konsequent verfolgen“ ist seit Mai 2021 in Nutzung und seit Mai 2022 ist die „Zentrale Anlaufstelle für Opfer von Rechtsextremismus und Antisemitismus“ bei der Generalstaatsanwaltschaft Dresden eingerichtet. Die konkret wahrnehmbare Praxis der Strafverfolgungsbehörden änderte sich indes kaum. Während in anderen Bundesländern Präzedenzfälle geschaffen wurden, um gegen die Relativierung der Shoa in Form von gelben Davidsternen mit der Innschrift „Ungeimpft“ vorzugehen oder die Polizei per Dienstanweisung aufgefordert wurde, das Zeigen des Symbols zur Anzeige zu bringen, wurde aus Sachsen lediglich auf Nachfrage laut, dass „das öffentliche Zeigen solcher Symbole und die Verbreitung holocaustrelativierender Aussagen grundsätzlich für strafbar“ gehalten werde.[7] Wer nun aber „Entschlossenheit“ erwartete, wurde enttäuscht: Erst Ende September wurde ein Angeklagter vor dem Amtsgericht Pirna freigesprochen, der ein Bild mit einem gelben Davidstern mit den Inschriften „ungeimpft“ und „vogelfrei“ auf seinem Facebook-Account veröffentlich hatte, ohne dass die Richterin in der mündlichen Urteilsbegründung näher darauf einging, warum der Straftatbestand der Volksverhetzung nicht erfüllt sei.[8] Ein Vorgehen, das sich ebenso bei der diesjährigen Neonazidemonstration am 13. Februar in Dresden zeigte, als die Staatsanwaltschaft Dresden ohne Begründung darlegte, dass ein Transparent der dezidiert antisemitischen Partei Die Rechte mit dem Aufdruck „Bombenholocaust“ keine strafrechtliche Relevanz besitze.[9]
Im Kreis des Bündnisses gegen Antisemitismus in Dresden und Ostsachsen beschlossen wir damals, Wortkargheit und ausbleibendes Handeln nicht länger hinzunehmen. Am 31. März 2022 reichten wir eine juristisch begründete Anzeige gegen das Transparent nach §130 Abs. 3 StGB (Volksverhetzungsparagraf) ein, mit der wir uns u.a. darauf beriefen, dass die juristische Debatte um die ‚Ungeimpft-Sterne‘ gezeigt habe, „dass gerade im Bereich der Äußerungsdelikte die Rechtsanwendung keiner starren Linie unterliegt, sondern sich diskursiv fortentwickelt“, so unsere Rechtsanwältin Dr. Kati Lang.[10] Die Reaktion der Staatsanwaltschaft Dresden: Nachdem uns zunächst eine zeitnahe Bearbeitung des Anliegens zugesichert wurde, liegt der Fall nach einem halben Jahr noch immer unbearbeitet auf dem Tisch der Staatsanwaltschaft. Wir fordern die Staatsanwaltschaft Dresden daher auf, ihre Blockade bei der Klärung des Sachverhalts aufzugeben, bevor der Fall am 13. Februar 2023 im wahrsten Sinne des Wortes verjährt ist. Die Dringlichkeit des Anliegens liegt ohnehin auf der Hand: Die Relativierung der Shoa ist kein Kavaliersdelikt, sie ist die am weitesten verbreitete Form antisemitischen Denkens und öffnet den Raum für andere antisemitische Narrative. Und dass es bei der Verbreitung ihrer Inhalte nicht bleibt, hat die Geschichte, und nicht zuletzt der November 1938, leider ausreichend bewiesen.
[1] Lackmann, Thomas zitiert nach: Schmid, Harald, 2016: Der bagatellisierte Massenmord. Die Reichsscherbenwoche von 1938 im deutschen Gedächtnis, S. 350, in: Hering, Rainer: Die ‚Reichskristallnacht‘ in Schleswig-Holstein. Der Novemberpogrom im historischen Kontext, Hamburg, S. 343-364.
[2] Schmid 2016: 346.
[3] Grynszpan, Herschel zitiert nach: Schmid 2016: 347.
[4] Vgl.: Schmid 2016. Das Novemberpogrom in Sachsen beleuchtet die folgende Publikation: Ristau, Daniel, 2018: Der 9. November 1938. Die Novemberpogrome in Sachsen im Spannungsfeld zwischen Geschichtsforschung, Gedenkkultur und persönlicher Erinnerung, in: Medaon. Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung, 12/23. Unter: https://www.medaon.de/de/artikel/der-9-november-1938-die-novemberpogrome-in-sachsen-im-spannungsfeld-zwischen-geschichtsforschung-gedenkkultur-und-persoenlicher-erinnerung/
[5] Vgl. z.B.: Tydecks, Hermann: 20 Jahre neue Synagoge. Wie Dresdens Juden mit Antisemitismus leben, in: TAG24 vom 10.11.2021. Unter: https://www.tag24.de/dresden/lokales/20-jahre-neue-synagoge-wie-dresdens-juden-mit-antisemitismus-leben-2198670; SZ/dpa: Dresdner Synagoge. Jubiläum in schwieriger Zeit, in: Sächsische Zeitung vom 10.11.2021. Unter: https://www.saechsische.de/dresden/kultur/dresdner-synagoge-jubilaeum-in-schwieriger-zeit-5562976.html.
[6] Kretschmer, Michael zitiert nach: Tydecks 2021.
[7] Huesmann, Felix: Justiz geht vermehrt gegen Holocaust-Relativierung bei Corona-Protesten vor. In: RedaktionsNetzwerk Deutschland vom 9.2.2022. Unter: https://www.rnd.de/politik/holocaust-relativierung-bei-corona-protesten-justiz-geht-vermehrt-dagegen-vor-V4ORV2JD3RDGTP5R5T3Y5VNK4M.html.
[8] Hohmann, Friederike: ‚Ungeipmft-Stern‘ als Profilbild bei Facebook. In: Sächsische Zeitung vom 22.9.2022. Unter: https://www.saechsische.de/heidenau/ungeimpft-stern-als-profilbild-bei-facebook-5760171-plus.html.
[9] Lopez, Edgar: Uneinigkeit über Begriff ‚Bombenholocaust‘. Volksverhetzung ja oder nein?, in: MDR vom 18.2.2022. Unter: https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen/dresden/dresden-radebeul/rechtes-banner-bombenholocaust-kritik-102.html.
[10] BgA-Ostsachsen: Pressemitteilung vom 31.3.2022. Wird die Staatsanwaltschaft Dresden endlich handeln?, Unter: https://www.raa-sachsen.de/buendnis-gegen-antisemitismus/neuigkeiten/pm-anzeige-bga-6053.