Neuigkeit 29. April 2022

Rückblick und Video: „…wenn es dort eine jüdische Gruppe gibt, muss das gefördert werden.“

Was macht jüdisches Leben in Ostdeutschland heute aus? Unter welchen Bedingungen vollzog sich die Neugründung jüdischen Gemeindelebens im Osten? Und wie können Politik und Zivilgesellschaft jüdisches Leben vor Ort konkret unterstützen? Unter diesen Leitfragen fand am Donnerstag, den 12. April, unsere Podiumsdiskussion „…wenn es dort eine jüdische Gruppe gibt, muss das gefördert werden.“ im Literarturhaus Alte Synagoge in Görlitz statt.

Podium_"...wenn es dort eine jüdische Gruppe gibt..."

Zusammenfassung

Zum Gespräch geladen waren Larissa Bargtel, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Frankfurt (Oder), Dr. Nora Goldenbogen, Präsidentin des Landesverbandes Sachsen der Jüdischen Gemeinden, sowie Esther Jonas-Märtin, Rabbinerin und Vorständin des jüdischen Lehrhauses Beth Etz Chaim in Leipzig. Moderiert vom Historiker Steffen Heidrich wandte sich die Diskussion zunächst der Periode der Wendezeit zu, in deren Zusammenhang es nicht nur zu Revitalisierung jüdischen Gemeindelebens in Ostdeutschland durch den Zuzug sogenannter jüdischer Kontingentgeflüchteten kam, sondern auch zur Bildung zivilgesellschaftlicher Initiativen wie dem Hatikva e.V. in Dresden, in dem seither sowohl jüdische als auch nicht-jüdische Aktivist*innen und Angestellte an der Bekanntmachung jüdischer Geschichte und Kultur arbeiten.

Im Fokus des Gesprächs standen dabei die Bedingungen und Zielsetzungen, unter denen sich die (Neu-)Gründung der jüdischen Gemeinden sowie zivilgesellschaftlicher Initiativen vollzog. Interessanterweise bildete in beiden Fällen eine konstatierte Unwissenheit den Ausschlag zur Institutionalisierung: Während sich der Aufklärungswille des Hatikva e.V. jedoch vorrangig auf die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft richtete, um diese, zur Entlastung der lokalen Gemeinde, über die vielseitige Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens in Dresden zu informieren, hatte die Gründung der Jüdischen Gemeinde Frankfurt (Oder) vorrangig ein anderes Ziel. Sie sollte ihren ausschließlich aus Kontingentgeflüchteten bestehenden Gemeindemitgliedern die Möglichkeit geben, sich zum ersten Mal frei und unbefangen mit der eigenen jüdischen Geschichte, Religion und Kultur auseinanderzusetzen. Denn bis dahin, so die Vorsitzende Larissa Bargtel, habe die einzige Gemeinsamkeit der Mitglieder in der Bezeichnung „Jude“ in ihrem Pass bestanden.

Dass das vielseitige Engagement zur Bekanntmachung jüdischer Geschichte und Kultur bisher leider nur begrenzten Erfolg vorzuweisen hat, machte der erste Beitrag von Esther Jonas-Märtin deutlich. Denn obwohl z.B. zwischen der Gründung des Hatikva e.V. und der des Lehrhauses Beth Etz Chaim mehr als 25 Jahre lagen, war auch diese durch ein weitverbreitetes Unwissen über das Judentum und das Jüdische motiviert. Der Ansatz von Beth Etz Chaim: Ein Mix aus Angeboten für Jüdinnen*Juden und die Mehrheitsgesellschaft, der dabei helfen soll, das Judentum von seinen ausschließlich negativen Assoziationen – der Shoah oder dem Antisemitismus – zu lösen, um den Blick auf seine vielschichtige Ethik, Moral und Philosophie zu öffnen. Davon verspricht sich Rabbinerin Jonas-Märtin langfristig auch positive Auswirkungen auf die nicht-jüdische Gesellschaft, die von der sprichwörtlichen jüdischen Streitkultur – „drei Juden fünf Meinungen“ – nur lernen könne.

Ein positiveres, wenn auch zum Teil ambivalentes Bild zeichneten die drei Rednerinnen von der Kooperation mit Zivilgesellschaft und Politik. So konstatierte Dr. Goldenbogen, dass sich das Verhältnis zwischen Politik und Jüdischer Gemeinde zu Dresden seit dem Beginn ihres Engagements im Vorstand der Gemeinde 1996 eindeutig zum Besseren gewandelt hat. Dies sei aber vielmehr auf eine emotionale und freundschaftliche Annäherung zwischen den Akteur*innen denn auf eine Annäherung aufgrund von Wissen oder Verständnis zurück zu führen. Und damit erkläre sich auch, woran es z.B. beim Fund der Fragmente einer Thorarolle in Görlitz im Winter 2021 gemangelt habe: Dort, wo es nämlich kein öffentlich präsentes jüdisches Leben gebe, fehle die persönliche Ebene, womit zumeist die Zivilgesellschaft alleine vor der wichtigen Aufgabe stehe, für die Bedürfnisse und Rechte der jüdischen Gemeinschaft einzustehen.

Dass es auch anders geht, zeigten die Ausführungen von Larissa Bargtel. Sie beschrieb ein Verhältnis zur Politik, das von Anfang an durch Anerkennung und Hilfe geprägt war. Die Stadt Frankfurt (Oder) unterstützte die Jüdische Gemeinde nicht nur durch eine geeignete Immobilie, sondern auch durch die bis heute andauernde Übernahme eines Großteils der Miete. Darüber hinaus richtete die Stadt einen Beirat ein, in der Gemeinde und Politik regelmäßig über kollektive aber auch individuelle Probleme und Herausforderungen im Austausch stehen, seien sie sozialer, kultureller oder auch politischer Natur. Doch nicht nur das Verhältnis zur Politik ist ein besonderes: Sowohl die Universität als auch die evangelische Kirche haben sich durch eine Unterstützung der Jüdischen Gemeinde hervorgetan. Während die Universität wichtige Grundlagenforschung zur Beleuchtung der jüdischen Geschichte von Frankfurt (Oder) leistete, stellte die evangelische Kirche vor allem in der Anfangszeit der Gemeinde unkompliziert Hilfe zur Verfügung. So kam es auch, dass die Gründung der Jüdischen Gemeinde in einem Raum der evangelischen Kirche erfolgte. Ähnliches wusste auch Rabbinerin Jonas-Märtin zu berichten, deren Lehrhaus zur Feier des diesjährigen Sederabends, dem Auftakt des Pessach-Festes, einen Saal der Evangelischen Kirche nutzen konnte.

Ebenso gut wie zwanghaft stellten die Rednerinnen schließlich das Verhältnis zur Polizei dar. Sowohl in Frankfurt (Oder) als auch in Dresden und Leipzig werden seit dem Attentat von Halle alle Veranstaltungen der Polizei gemeldet und von ihr bewacht – egal, ob sie von zwei, zehn oder hundert Personen besucht werden. Dass darin enthaltene Dilemma schilderte Dr. Goldenbogen eindrücklich: Natürlich seien die Gemeinden zu allererst ihren Mitgliedern verpflichtet und verantwortlich ihre Sicherheit zu wahren. Der ursprünglichen Ausrichtung der Jüdischen Gemeinde zu Dresden stehe die ständige Polizeipräsenz jedoch zuwider. Als offenes Gemeindezentrum mit Café konzipiert, sollte die Synagoge am Hasenberg vor allem Raum für spontane Begegnungen schaffen. Mittlerweile aber müssten alle Veranstaltungen langfristig geplant werden. Eine wirkliche Offenheit der Gemeinde, die stellvertretend für die Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens stehen könne, sehe anders aus. Das Fazit von Dr. Goldenbogen regt daher auch zum Nachdenken an: „Was soll eine Gemeinschaft in einem Land, wenn sie sich hinter dicken Mauern verbergen muss?“

Was diese Gemeinschaft ausmacht und was von ihr gelernt werden kann, wurde zum Ende des Gesprächs thematisiert. Dabei wiesen sowohl Rabbinerin Jonas-Märtin als auch Dr. Goldenbogen darauf hin, dass die jüdischen Gemeinden weit mehr als eine Religionsgemeinschaft sind. Während sie nach dem Ende der Shoah vor allem aus einem Kreis an Überlebenden bestanden, in dem die schrecklichen Erfahrungen geteilt, verstanden und verarbeitet wurden, haben sie sich seither deutlich differenziert. In ihnen kommen Menschen zusammen, die auf der Suche nach ihrer Geschichte und ihrer Identität sind und die ihre Antworten wahlweise in der jüdischen Religion, Philosophie, Musik oder auch Küche finden. Als verbindendes Element hoben die Rednerinnen aber ebenso die kollektive Migrationserfahrung hervor. Sie ermöglichte es der per se internationalen Gemeinschaft der Jüdinnen*Juden nicht nur gut auf die Migrationsbewegung der jüdischen Kontingentgeflüchteten nach 1990 zu reagieren, sondern auch auf den bis heute anhaltenden Zuzug von Geflüchteten durch Krieg und Vertreibung. Darüber hinaus sei eine positive Einstellung zum Weltbürger*innentum ohnehin die beste Voraussetzung für das Leben.

Den Abschluss des Gesprächs bildete schließlich die Frage, welche Wünsche die Rednerinnen an die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft richten würden. Angefangen bei Respekt und der Anerkennung anderer Sprachen und Gewohnheiten wurde sich die Enthistorisierung des Judentums sowie die Bereitschaft zur eigenständigen Auseinandersetzung mit diesem gewünscht. Wichtig sei aber auch ein offener Blick auf das Judentum, denn dieses sei mittlerweile bedeutend vielseitiger und bunter als es für die Allgemeinheit erscheine. Damit einen Umgang zu finden sei eine Probe für die Inklusivität der Gesellschaft.

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