Redebeitrag zum Dresdner Gedenkrundgang am 27. Januar '24
Zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus hielt die Bündniskoordination einen Redebeitrag über die Auswirkungen des 7. Oktobers und die Verschränkung von Israelbezogenem Antisemitismus und Schuldabwehr. Der Beitrag im Wortlaut:
Wo anfangen?
Als wir, die Koordination vom BgA-Ostsachsen, für einen Redebeitrag zum heutigen Gedenkrundgang angefragt wurden, haben wir diese Einladung gerne angenommen.
Doch wo sollten wir anfangen, um in einem ca. fünfminütigen Redebeitrag zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus einen Bezug zur aktuellen Zeit und den Auswirkungen des Terrorangriffs der Hamas vom 7. Oktober herzustellen? Wie sollten wir kurz zusammenfassen, was seither in einer schier endlosen – damit aber nicht weniger unerlässlichen – Flut an Analysen, Reportagen und Stellungnahmen, vor allem auch aus der jüdischen Community, über Antisemitismus im Allgemeinen sowie antisemitische Taten, ihre Auswirkungen, ihre Ursachen und Gegenstrategien im Besonderen gesagt wurde?
Nach einiger Überlegung haben wir uns entschieden, zunächst mit einem kurzen Rückblick zu beginnen und die Auswirkungen des 7. Oktobers auf Jüdinnen*Juden zu skizzieren. In einem zweiten Schritt werden wir sodann eine Spezifik der aktuellen Situation in Deutschland beleuchten, um abschließend Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Aber der Reihe nach:
Der 7. Oktober 2023 und die Folgen
Es sind 113 Tage vergangen, seit die islamistische Hamas am 7. Oktober 2023 in einer großangelegten Terroraktion das an den Ganzastreifen grenzende Territorium Israels überfiel und an Kontrollposten sowie in Kibbuzim, Dörfern, Städten und auf einem Musikfestival ein seit der Schoa präzedenzloses Massaker an 1.200 Menschen beging. Warum? Weil sie Jüdinnen*Juden waren oder als solche angesehen wurden! Bis heute befinden sich Schätzungen nach noch immer 105 lebende Geiseln in Gefangenschaft der Hamas und fast täglich kommt es zu neuen Hiobsbotschaften aus Nahost, die die Sorge vor einem Mehrfrontenkrieg gegen Israel wachhalten.
Dass Jüdinnen*Juden unter diesen Umständen von einem Zustand der Traumatisierung bzw. Retraumatisierung berichten, ist nicht verwunderlich. Israel konnte das existenzielle Sicherheitsversprechen gegenüber seinen Bewohner*innen, ein Schutzraum für Jüdinnen*Juden nach der Schoa zu bieten, nicht gewährleisten. Und die Grausamkeit der Taten der Hamas erinnerte viele Bewohner*innen zwangsläufig an die in den Familienbiographien tradierten Gewalttaten und Pogrome der Nazis. Genauso ist für diesen Zustand aber auch die Reaktion der internationalen Gemeinschaft verantwortlich, die Jüdinnen*Juden im Gefühl allein zu sein zurücklässt. Schon in den ersten Tagen nach dem Massaker kam es an vielen Orten der Welt, darunter New York, London, Sydney oder Berlin, zu Demonstrationen, auf denen die Taten der Hamas in ihrer Dimension verklärt, als Befreiungskampf gerechtfertigt oder schlicht weg gefeiert wurden. Und während sich diese Narrative fortan über alle Gesellschaftsschichten und sozialen Milieus bis in die Führungsgremien renommierter Universitäten und internationaler Organisationen verbreiteten, blieb es nicht bei Sympathiebekundungen:
Aus einer Studie der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (kurz RIAS) von Ende November geht hervor, dass sich unter den 994 antisemitischen Vorfällen, die RIAS zwischen dem 7. Oktober und dem 9. November in Deutschland registrierte, allein 3 Fälle von extremer Gewalt, 29 Angriffe, 32 Bedrohungen und 72 gezielte Sachbeschädigungen befinden. Die Taten reichen von einem versuchten Brandanschlag auf ein Jüdisches Gemeindezentrum in Berlin über antisemitische Markierungen von Wohnhäusern bis hin zu Steinwürfen gegen Wohnräume oder das gewaltvolle Eindringen in diese.
Neben Übergriffen im Wohnumfeld melden Jüdinnen*Juden seit dem 7. Oktober aber auch vermehrt Anfeindungen aus dem Bekanntenkreis sowie vom Arbeits- oder Ausbildungsplatz. Dies hat zur Folge, dass der Raum, in dem sich eine jüdische Identität ungestört und frei entfalten kann, immer kleiner wird und letztlich völlig aufhört zu existieren.
Israelbezogener Antisemitismus, Schuldabwehr und Erinnerungskultur
Auffällig an der Analyse von RIAS ist schließlich auch eine gehäufte Verschränkung des seit dem 7. Oktober grassierenden Israelbezogenem Antisemitismus mit dem sogenannten Schuldabwehrantisemitismus, der sich schon vor dem 7. Oktober in einer deutlichen Zunahme von Angriffen auf Gedenkorte an den Nationalsozialismus manifestierte.
Und dies führt uns direkt in das Hier und Jetzt des heutigen Gedenkrundgangs zurück: Unsere These ist, dass die aktuelle Debatte um die Vehemenz und Aggressivität des gegenwärtigen Antisemitismus in Deutschland viel zu kurz greift, da sie diesen Zusammenhang außer Acht lässt und einseitig auf einen vermeintlich importierten Antisemitismus rekurriert. Schärfere Integrationsanforderungen wie ein Bekenntnis zu Israel oder die Drohung mit Entzug der Staatsbürgerschaft sind keine adäquaten Mittel zur Bekämpfung des Antisemitismus, sondern rassistisches Wahlkampfgetöse.
Vielmehr sollte sich die offizielle deutsche Erinnerungspolitik stärker selbst zum Gegenstand der Debatte machen und fragen, welchen Beitrag sie selbst zur jüngsten Eskalation des Antisemitismus geleistet hat. Denn Kritikpunkte gibt es genug: Der offizielle Erinnerungsdiskurs an die Schoa setzte nicht nur viel zu spät ein, sondern er zeigt auch eine Tendenz der Vereinnahmung. Im Mittelpunkt steht schon lange nicht mehr nur die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus und der angemessene Umgang mit den Angehörigen und Nachkommen, sondern auch die Selbstdarstellung als geläuterte und aufrechte Nation. In diesem Zuge drängen immer wieder auch geschichtsrevisionistische Positionen in die Öffentlichkeit, denen nach die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland von der Machtergreifung bis zum Bombenkrieg ausschließlich unter der „Herrschaft von Gewalt und Unrecht“ gelitten hätte. Fatal ist an diesen Erzählungen, dass sie die Geschichte entkonkretisieren. Sie verwischen die Unterschiede zwischen Opfern und Täter*innen, zwischen Ursache und Wirkung und lassen damit jeglichen moralischen Maßstab der NS-Geschichte für die Gegenwart verloren gehen.
Erst vor dem Hintergrund eines solchen Geschichtsbildes sind dann auch viele der Argumente denkbar, die wir heute auf den antiisraelischen Protesten hören und sehen: die Gleichsetzung Israels mit dem Nationalsozialismus, der Vergleich israelischer Politiker*innen mit den Führungsfiguren des NS oder der Vorwurf an Israel einen Holocaust an den Palästinenser*innen zu betreiben. Wir wollen mit dieser Feststellung das augenblickliche Leid in Gaza auf keinen Fall negieren. Wir möchten darauf aufmerksam machen, dass diese Argumente auf eine Dämonisierung und Delegitimierung Israels zielen, die letztlich jenen das Wort redet, die eine Vernichtung Israels als sichere Heimstätte für Jüdinnen*Juden und damit das Erbe des Nationalsozialismus anstreben.
Wie weiter?
Es bleibt die Frage: Was tun? Anlässlich des heutigen Gedenktages an die Opfer des Nationalsozialismus möchten wir eine Forderung von Judith Coffey und Vivien Laumann aufgreifen, die in ihrem 2021 veröffentlichten Buch „Gojnormativität“ u.a. für eine grundlegende Reflektion des mehrheitsgesellschaftlichen Gedenkens anhand der folgenden Leitfragen eintreten: Welches wir gedenkt eigentlich und warum? Wo gedenkt dieses wir warum? Wer ist Akteur*in des Gedenkens und wer Adressat*in? Wen schließt das Gedenken mit ein und wen blendet es systematisch aus? Zu einer kritischen Reflektion des Gedenkens gehört für Coffey und Laumann aber auch ein offener gesellschaftlicher Umgang mit dem Ausbleiben substantieller materieller Wiedergutmachung für die Opfer des Nationalsozialismus. Es darf nicht sein, dass die Überlebenden und ihre Nachkommen noch heute zum Teil in Armut und Elend leben.
Mit Blick auf die Folgen des Antisemitismus für die Betroffenen möchten wir abschließend noch das Folgende sagen: Lasst Jüdinnen*Juden nicht allein! Zeigt euch solidarisch, wann immer sich ein Anlass dazu bietet! Richtet Unterstützungsangebote an Bekannte und Freund*innen, wenn ihr wisst, dass sie von Antisemitismus betroffen sind. Und lasst Antisemitismus nicht unwidersprochen: Versichert euch einer ausreichenden Unterstützung und schreitet ein!