Für immer verloren? Orte der Novemberpogrome in Ostsachsen
Am 9. November jährt sich der Beginn der Novemberpogrome 1938 zum 85. Mal. In diesem Beitrag zeigen wir exemplarisch Orte aus Ostaschsen auf, deren Vernichtung die Nazis anstrebten und verwirklichten. Einige konnten wiederaufgebaut und belebt werden – andere gingen wie unzählige Menschen, die mit ihnen verbunden waren, für immer verloren.
Im Zuge der antisemitischen Ausschreitungen, die ihren Beginn am 9. November 1938 nahmen, wurden im gesamten Reichsgebiet etwa 1.400 Synagogen, 10.000 Geschäfte und Betriebe sowie unzählige Wohnungen, Schulen und Friedhöfe verwüstet. Bei dem bis dahin größten öffentlich inszenierten Pogrom auf deutschem Boden kam es aber nicht nur zur Zerstörung jüdischer Kultur- und Sachwerte. In einer bis zum 16. November andauernden Verhaftungswelle wurden circa 31.000 Jüdinnen*Juden in Konzentrationslager deportiert. Darüber hinaus verloren mehr als 1.000 Jüdinnen*Juden durch Mord, Totschlag, Suizid oder die Folgen von Misshandlung und Inhaftierung ihr Leben.
Auch in Sachsen organisierten NSDAP, SA oder SS ab dem Abend des 9. November gewalttätige Mobs, die auf die von Jüdinnen*Juden betriebenen Geschäfte, Praxen, Firmen oder Fabriken losgelassen wurden. Dort, wo es wie in Bautzen, Dresden, Görlitz und Zittau auch Gebetssäle, Synagogen oder Friedhöfe gab, schreckten die Täter*innen auch vor deren Zerstörung nicht zurück. Gewalt wurde aber auch hier nicht nur gegen Sachen angewandt – immer wieder kam es im Verlauf der Pogrome zu massiven körperlichen Angriffen und Demütigungen. Allein von den ca. 900 bis zum 16. November 1938 in Sachsen Verschleppten verstarben 14 im Konzentrationslager Buchenwald oder an den Folgen der dort erlittenen Misshandlungen.
Das Erinnern trifft in diesem Jahr auf die schreckliche Gegenwart des Angriffes der Hamas auf Israel. Die bedrohliche Lage für Jüdinnen*Juden bleibt dabei nicht auf den Nahen Osten beschränkt: Überall auf der Welt kommt es vermehrt zu antisemitischen Demonstrationen und Übergriffen. In diesen Tagen ist es daher umso wichtiger, sich die Grausamkeiten der Novemberpogrome ins Gedächtnis zu rufen und daraus ein entschiedenes Eintreten für das oft proklamierte „Nie wieder“ im Hier und Jetzt abzuleiten.
An dieser Stelle zeigen wir deswegen exemplarisch Orte aus Ostaschsen auf, deren Vernichtung die Nazis anstrebten und verwirklichten. Einige konnten wiederaufgebaut und belebt werden – andere gingen wie unzählige Menschen, die mit ihnen verbunden waren, für immer verloren.
Geschäfte
In allen Bereichen der Wirtschaft waren zu Beginn der 1930er Jahre Jüdinnen*Juden tätig und trugen zum Wohlstand, insbesondere der größeren Städte, bei. Ab der Machtübergabe an die Nazis 1933 wandelten sich die Bedingungen für als jüdisch markierte Geschäftstreibende jedoch radikal. Boykottaufrufe und Schmähkampagnen gegen jüdische Betriebe schlugen sich in sinkenden Umsätzen nieder. Die Pogrome hatten schließlich zum Ziel, die wirtschaftliche Verdrängung zum Äußersten zu treiben.
So wie an vielen anderen Orten wurde auch in Dresden noch am Abend des 9. November eine antisemitische Protestkundgebung der SA abgehalten, in deren Folge ein Mob vom Rathaus durch die Innenstadt bis zum Hauptbahnhof marodierte, Schaufenster einschlug und die Auslagen plünderte.
Zahlen darüber, wie viele Geschäfte in Dresden genau Ziel der Pogrome wurden, liegen bis heute nicht vor. Insbesondere auf der Prager- und Seestraße müssen es etliche aber gewesen sein, wie Augenzeugenberichte belegen: „Immerfort trat man auf Glassplitter.“ (Otto Griebel) Einen Einblick in die verlorengegangenen Läden und Betriebe bietet das Projekt „Geschäft gesucht“. Auf einer Karte lassen sich Standorte, Fotos und Informationen zu Geschäften einsehen, die von als jüdisch verfolgten Geschäftsleuten betrieben wurden. Bis Donnerstag auch noch als Schaufensteraustellung an der Wir AG (Martin-Luther-Str. 21, Dresden) zu sehen!
Zwei Beispiele aus der Ausstellung:
Die Familie Kussy betrieb auf der Großenhainer Str. eine Fabrik für elektrische Schaltgeräte und Widerstände. Der Kaufmann aus Böhmen Edmund Kussy gründete das Unternehmen Rheostat kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges. Das Wachsen des Fahrzeug- und Maschinenbau sorgten für eine rege Nachfrage, auch die Wirtschaftskrise überstand die Firma ohne hohe Verluste. Bis Mitte der 1930er Jahre gehörte Rheostat mit über 600 Angestellten zu den größeren mittelständigen Unternehmen in Dresden.
Victor und Werner Kussy, die Söhne des Firmengründers Edmund, übernahmen das Geschäft nach seinem Tod 1935. Der Jurist Victor war für Verwaltungsangelegenheiten und Rechtliches zuständig, der Elektroingenieur Werner brachte viele später patentierte Erfindungen ein.
Im Zuge der Pogrome kam es am 10.11.1938 zu einer „antijüdischen“ Protestkundgebung mit Arbeitsboykott auf dem Werksgelände. Einer der Inhaber, Werner Kussy, wurde verhaftet. Er floh nach seiner Freilassung 1939 in die Niederlande mitsamt aller Geschäftsunterlagen für Rheostat. Von dort wurde er 1942 zusammen mit weiteren Familienmitgliedern von den Nazis in verschiedene Konzentrationslager verschleppt. Werner überlebte, sein Bruder Victor starb 1945 in Auschwitz.
Auf der Suche nach Angehörigen kehrte Werner Kussy 1945 nach Dresden zurück. Die Stadt ermöglichte die Rückgabe des Betriebs, allerdings wurde die Unternehmensführung durch immer mehr Steuerabgaben erschwert. Die antisemitische Säuberungswelle in der DDR erfasste schließlich auch Kussy: Er sollte verhaftet werden, woraufhin er schließlich über die BRD in die USA die Flucht ergriff. Aus Rheostat wurde der „Volkseigene Betrieb Elektroschaltgeräte“. Nach der Wiedervereinigung konnte er eine Entschädigung für die Enteignung erstreiten.
Auf der Kesselsdorfer Straße in Dresden befand sich das Kaufhaus Steinhart. Etwa 1906 eröffnete Richard Steinhart (*26.5.1873) ein Geschäft für modische Accessoires, das sich später zum Kaufhaus entwickelte. Angeboten wurde hier alles für den modernen Haushalt. Der eingängige Werbeslogan: „Hart wie Stein präg’ Dir ein: Steinhart muß Dein Kaufhaus sein.“ Die Söhne Kurt und Werner übernahmen das florierende Geschäft vom Vater.
Nach 1933 machten immer weitere Restriktion einen wirtschaftlichen Betrieb unmöglich: Erst wurde es nur jüdisch markierten Menschen erlaubt, im Kaufhaus einzukaufen. Die Kund*innenzahl war dadurch stark rückläufig, Personal durfte nicht entlassen werden. Nachdem Bankkonten in jüdischem Besitz blockiert wurden, musste das Geschäft sowie die Immobilie 1938 unter Wert zwangsverkauft werden.
Richard und Bertha Steinhart wurden im August 1942 ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Richard Steinhart starb dort am 15. Juli 1943, seine Frau kurze Zeit später. Ihr Sohn Kurt Steinhart wurde am 23. Juni 1942 im KZ Auschwitz ermordet. Werner und Marga konnten in die USA fliehen.
Das Gebäude am Standort Kesselsdorfer Straße 4 wurde 2011 saniert und in Eigentumswohnungen umgewandelt. An das Schicksal einiger Familienmitglieder erinnern heute noch drei Stolpersteine in Dresden, sowie seit 2017 die Rosa Steinhart Straße in Pieschen.
Friedhöfe
Friedhöfe sind oft der erste materielle Ausdruck jüdischer Präsenz in einer Gemeinschaft. So auch in Görlitz: Erstmals Erwähnung findet der jüdische Friedhof schon 1848, zwei Jahre bevor die jüdische Gemeinde gegründet wurde. Die Gräber betten nicht nur Jüdinnen*Juden aus Görlitz, sondern aus der ganzen Region. Lange war es der einzige jüdische Friedhof in der Umgebung. Mit über 700 Grabstätten und den imposanten Grabmälern ist der jüdische Friedhof Görlitz ein „guter Ort“ von besonderer Schönheit und Größe.
An vielen Orten Deutschlands sind die Friedhöfe aber auch die letzten Spuren jüdischer Gemeinden, so beispielsweise in Zittau. Die Israelistische Gemeinde Zittau wurde 1885 anerkannt, der jüdische Friedhof zwei Jahre später errichtet. Über 60 Gräber befinden sich dort.
Während der Novemberpogrome machten die Nazis auch vor den Ruhestätten der Toten nicht Halt. Gräber wurden geschändet, Grabsteine umgeworfen, Metallornamente entfernt und gestohlen. Die Leichenhalle in Zittau, erst 1908 errichtet, wurde ebenso wie die Synagoge am 10. November 1938 gesprengt.
Die Pflege der verwüsteten Friedhöfe oblag nach Kriegsende der letzten in der Region verbliebenen jüdischen Gemeinde in Dresden. In Zittau kam es noch mehrfach zu Grabschändungen, zuletzt im Jahr 2003. Zwei Projekte der Netzwerkstatt der Hillerschen Villa haben sich den Friedhöfen in Görlitz und Zittau in den letzten Jahren angenommen, um ihnen ihr würdiges Antlitz und ihre Geschichten zurückzugeben. Der jüdische Friedhof Zittau kann dank der Freiwilligen des Projekts Mazewa nun auch digital besucht werden: https://www.mazewa.eu/
In Görlitz haben Jugendliche in diesem Jahr im Rahmen des Projekts Mitzvah damit begonnen, die Gehwege und Grabstätten zu reinigen. Im nächsten Jahr sollen alle Gräber dokumentiert und schließlich digital auf einer Onlineplattform zusammengetragen werden. Bis dahin lohnt auch immer ein analoger Besuch des Jüdischen Friedhofs Görlitz!
Synagogen
Mit grün-weißen Schärpen geschmückt und begleitet von Honoratioren des Königs, der Kirchen und der Stadt zogen die Mitglieder der jüdischen Gemeinde Dresdens am 21. Juni 1838 vom Kurländer Palais zum Zeughausplatz, um die Grundsteinlegung der späteren Semper-Synagoge zu feiern. In seiner folgenden Rede hob der Oberrabbiner von Dresden, Zacharias Frankel, die Bedeutung des Baus für die jüdische Gemeinde Dresdens hervor, die nun endlich ein Vaterland gefunden habe.
Als 100 Jahre später, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, ein Mob von SA-, SS- und NSDAP-Mitgliedern nach einem gewalttätigen Zug durch die Stadt an der Semper-Synagoge angelangte und das Gotteshaus in Brand steckte, war von dem von Frankel erhofften Vaterland für Jüdinnen*Juden kaum noch etwas übrig. Von Boykotts, Berufsverboten und den Nürnberger Gesetzen zu völligen Außenseiter*innen degradiert, waren die jüdischen Gemeindeeinrichtungen wie Synagogen oder Schulen die letzten Orte, an denen Gemeinschaft für Jüdinnen*Juden überhaupt noch existierte.
Auch in anderen Städten Ostsachsens fielen die Nazis im Laufe der Novemberpogrome über Betstuben und Synagogen her. In Bautzen wurde der Gebetsraum auf der Töpferstraße verwüstet, während die Mitglieder der kleinsten jüdischen Gemeinde Sachsens durch den Ort getrieben, gedemütigt und mit Steinen beworfen wurden. In Zittau sprengte man sogar die erst im September 1906 geweihte Synagoge in der Lessingstraße, die zu ihrer Fertigstellung noch als Ausdruck eines Zittauer Kunstsinns und Bürgerfleißes gepriesen wurde.
Der einzige jüdische Sakralbau im heutigen Ostsachsen, der im Zuge der Novemberpogrome nicht völlig zerstört wurde, war die Synagoge in Görlitz. 1911 im monumentalen Stil fertiggestellt, war der moderne Stahlbetonbau der ganze Stolz der florierenden Görlitzer Gemeinde und ersetzte die zu klein gewordene (alte) Synagoge in einem Hinterhof des Obermarkts, die bereits 1853 geweiht wurde.
Dass die Görlitzer Synagoge heute, nach jahrzehntelanger Sanierung und Restaurierung, wieder in annährend alter Pracht bestaunt werden kann, ist nicht nur dem ungeklärten Eingreifen der Görlitzer Feuerwehr in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 zu verdanken, sondern auch dem beherzten Engagement zahlreicher Görlitzer Bürger*innen. Es bleibt zu hoffen, dass der restaurierte Bau, ebenso wie die 2001 und 2023 geweihten Synagogen in Dresden, der Ort eines vielfältigen und lebendigen Gemeindelebens sein wird.
Gedenkveranstaltungen 2023
An vielen Orten in Ostsachsen finden am 9. November Veranstaltungen statt, um der Opfer der Novemberpogrome zu gedenken.Löbau:
Dresden:
Görlitz:
Pirna:
Zum Weiterlesen:
Ristau, Daniel: Die Novemberpogrome 1938 in Sachsen. Forschungsstand und -perspektiven, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte, Band 87 (2016). Online unter: https://journals.qucosa.de/nasg/article/view/76/270
Ristau, Daniel: Der 9. November 1938. Die Novemberpogrome in Sachsen im Spannungsfeld zwischen Geschichtsforschung, Gedenkkultur und persönlicher Erinnerung, in: Medaon. Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung, 12/23 (2018). Online unter: https://www.medaon.de/de/artikel/der-9-november-1938-die-novemberpogrome-in-sachsen-im-spannungsfeld-zwischen-geschichtsforschung-gedenkkultur-und-persoenlicher-erinnerung/
Schmid, Harald: Der bagatellisierte Massenmord. Die Reichsscherbenwoche von 1938 im deutschen Gedächtnis, in: Hering, Rainer: Die ‚Reichskristallnacht‘ in Schleswig-Holstein. Der Novemberpogrom im historischen Kontext, Hamburg 2016. Online unter: https://hup.sub.uni-hamburg.de/volltexte/2016/162/chapter/HamburgUP_LASH109_Pogromnacht_Schmid.pdf
Ulbricht, Gunda und Glöckner, Olaf (Hg.): Juden in Sachsen. Leipzig 2013.
Arbeitskreis Gedenkbuch der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Dresden e.V. (Hg.): Buch der Erinnerung. Juden in Dresden. Deportiert, ermordet, verschollen. 1933-1945, Dresden 2006.