Prozessdoku 19. Dezember 2023

Zweiter Verhandlungstag: Prozess um Ausschreitungen 2018 in Chemnitz

Zweiter Prozesstag am 13.12.2023

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Beginn

Gegen 9:15 Uhr beginnt der zweite Prozesstag mit der Feststellung der Anwesenden. Sowohl der Verteidiger Wolfram Narath, als auch die Nebenklagevertreterin Kristin Pietrzyk fehlen krankheitsbedingt. Für Narath übernimmt RA Thorsten Gärtner an diesem Tag die Verteidigung von Mark B. Für Pietrzyk übernimmt Nebenklagevertreter Özata.

Der für 9 Uhr geladene Zeuge P. und erster Geschädigter im Tatkomplex um den 1. September 2018 erscheint nicht. Eine weitere Zeugin konnte nicht geladen werden.

Allerdings hat sich einer der Angeklagten nach dem ersten Prozesstag und nach Rücksprache mit seinem Strafverteidiger dazu entschieden, sich zu den Vorwürfen einzulassen.

Aussage eines Angeklagten

Rico W. schildert in seiner Aussage zunächst, dass er keiner rechtsextremen Gruppierung angehört. Er habe an dem Tag spontan über Social Media von der Veranstaltung in Chemnitz erfahren und war mit einem Freund angereist. Er sei damals frustriert und ein besorgter Bürger gewesen. „Ich war damals, vor 5 Jahren, aufgebracht mit der Situation und wie es so läuft.“, schildert er. Hinzu kam Unzufriedenheit über den Job.

Er sei im Trauermarsch zunächst ganz hinten mitgelaufen und habe keine radikalen Rechten gesehen und es sei ihm auch nicht bewusst gewesen, dass „solche Leute“ da mitlaufen. Er sei dann von der Polizei nach vorne gedrückt worden, durfte den Platz allerdings nicht verlassen. Die Menschen, die um ihn herumstanden, kannte er nicht und er habe auch erst später gesehen, welche T-Shirts getragen wurden (gemeint sind u.a. Shirts mit der Aufschrift HKN-KRZ). Hätte er damals gewusst, was das für Leute sind, wäre er ihnen nicht gefolgt. Es „waren wahrscheinlich die falschen Leute“, so W. Er sei nicht auf Gewalt aus gewesen und wollte auch niemanden schädigen. Er habe sich mit den Personen, die um ihm herumstanden, durch eine Polizeiabsperrung gedrückt und folgte diesen durch die Innenstadt. Eine Orientierung hatte er nicht. Er sei einfach mitgelaufen. An einer Ecke habe er eine Person gesehen, die auf dem Boden lag und im Gesicht blutete. „Ich bin hingegangen, habe ihn gefragt, ob es ihm gut geht, habe ihm seine Brille wieder gegeben.“, beschreibt W. Eine andere Person aus der Gruppe sei hinzugekommen und habe sich dafür entschuldigt, dass er ihn geschlagen habe. „Der Geschädigte sagte, wir sollen gehen, die Polizei kommt.“, so W. Daraufhin sind sie weggerannt. Den Schlag selbst habe er nicht gesehen.

Aus einer Lichtbildmappe werden Fotos vorgelegt. W. benennt darauf Lasse R. und Pierre S. B. als Personen, die mit vor Ort waren. Auf weiteren Bildern, benennt er die Straßenkreuzung Annabergerstr./Moritzstr. als jene Stelle an der „der Mann lag“ und identifiziert die darauf abgebildete Menschengruppe als jene Gruppe, mit der er unterwegs war. Ob die Gruppe geschlossen agiert hat, oder ein Zusammenschluss aus Individualisten war, kann er nicht sagen. Es sei ihm allerdings so vorgekommen, als hätte es einen „Anführer“ gegeben, der sich auskannte.

Plädoyer auf Einstellung

RA Reiner Ternick regt nach der Aussage seines Mandanten die Einstellung des Verfahrens gegen Auflagen an. Es zeige sich keine Verbindung zur rechtsextremen Szene und in den vergangenen fünf Jahren hätte sich Rico W. verändert. Er ist verheiratet, Vater eines vierjährigen Kindes, geht einer geregelten Arbeit nach. Er habe sich in den vergangenen Jahren für Flüchtlinge eingesetzt und sei nicht weiter strafrechtlich in Erscheinung getreten.

Nach kurzer Beratung der Richter*innen wird das Verfahren gegen Rico W. unter der Auflage einer Geldstrafe in Höhe von 1000,- € eingestellt. Die Zahlung ist innerhalb von sechs Monaten auf Anregung der Nebenklagevertreterin Dr. Kati Lang an den Opferfonds des RAA Sachsen e.V. zu leisten.

Videomaterial

Es werden insgesamt sieben Videos in Augenschein genommen. Zwei große Monitore ermöglichen die Sichtung sowohl für Gericht, Prozessparteien und den Zuschauerbereich. Zwei, jeweils etwa sieben minütige Polizeiaufnahmen zeigen den vorderen Bereich des Trauermarsches nach dessen Ankunft vor dem Karl-Marx-Monument. Zu sehen ist eine aufgeheizte Stimmung. Mehrere Personen gestikulieren laut und aggressiv in Richtung Polizeibeamt*innen, die die Menge abschirmt und am Weitergehen hindert. Pierre S. B. ist deutlich zu erkennen. Ebenfalls zu sehen ist der Beschuldigte Rico W. mit seinem Begleiter in direkter räumlicher Nähe auch zu den Beschuldigten Mark B., Timo B. und Lasse R. Parolen wie „Lügenpresse“, „Widerstand“, „Wir sind das Volk“ und „Frei, sozial und national“ werden immer wieder gerufen. Auch ein Versuch der Gruppe, die Polizeikette zu durchbrechen, ist filmisch festgehalten.

Drei kurze Clips zeigen private Aufnahmen von der Ecke Annabergerstr./Moritzstr. Zu erkennen ist die Gruppe der in diesem und in weiteren Verfahren Angeklagten, die sich im Bereich der Kreuzung aufhält. Die filmenden Personen standen auf der anderen Straßenseite und die Clips dauern weniger als eine Minute.

Zwei weitere Videos stammen aus journalistischer Quelle. Das Erste zeigt eine Reportage von Stern-TV. Auch hier ist die Gruppe deutlich zu erkennen. Das Zweite, ein Beitrag des WDR, geht auf die politischen Hintergründe und die Dimension dieses Tages ein. An diesem Tag gab es erstmalig den Zusammenschluss von AfD und extrem rechter Szene in der Öffentlichkeit. Durch den Beitrag wird deutlich, dass der Zusammenschluss der rechtsextremen „Pro Chemnitz“-Kundgebung und der AfD-Kundgebung durch die Veranstalter gezielt forciert wurde.

Zeugenaussage 1 eines Geschädigten

Der Zeuge war damals mit Freund*innen und Bekannten als Teilnehmer der „Herz statt Hetze“ Demonstration in Chemnitz. Sie waren auf dem Weg nach Hause, seien jedoch von der Polizei am Weitergehen gehindert und durch eine Seitenstraße geleitet worden. Während sie an einer Kreuzung an der Ampel standen, sei eine größere Gruppe auf sie zugekommen. Die Personen hätten alkoholisiert, gewaltbereit gewirkt und trugen szenetypische Kleidung, wie etwa ein T-Shirt mit der Aufschrift „HKNKRZ“. Nach seiner Erinnerung sei mehrfach der Hitlergruß gezeigt und der Spruch „Hitler Hooligans“ gerufen worden. Er und seine Freund*innen seien bespuckt und mit Transparentteilen beworfen worden. Körperlich angegriffen wurden sie nicht. „Ich hatte den Eindruck, dass sie Stress suchen mit Menschen, die in ihr Feindbild passen.“, so der Zeuge. „Menschen die links oder ausländisch aussehen. Wir waren als Teilnehmer*innen der „Herz statt Hetze“-Veranstaltung erkennbar durch unsere Transparente und deren Inhalte. Ich denke deshalb wurden wir von der Gruppe attackiert.“, entgegnet der Zeuge auf Nachfrage des Richters Zöllner, was wohl der Grund des Angriffs gewesen sein könnte.

Es hatte für ihn den Anschein, als ob eine Person etwas mehr zu sagen gehabt hätte. Der Zeuge ordnete dieser das Zitat zu: „Das sind ja gar keine richtigen Zecken, die laufen gar nicht weg“. Darauf folgte die Aufforderung, weiter zu gehen. Die Angreifer hätten dann von der Gruppe um den Zeugen abgelassen. Er schildert, dass er und seine Begleitung nach dem Vorfall Polizeibeamt*innen um Hilfe baten, diese hätte jedoch nicht reagiert.

Ihm wird dieselbe Lichtbildmappe vorgelegt, wie Rico W.. Auch er erkennt darauf Lasse R. als einen der potenziellen Anführer der Gruppe und Pierre S. B. und Jim K. als weitere Mitglieder der Gruppe.  

Auf die Frage nach Tatfolgen antwortet der Zeuge, dass er danach sehr verunsichert und ängstlich gewesen sei. Er habe sich Gedanken darübergemacht, was passieren könne, wenn er zu einer nächsten Veranstaltung gehe und wie er von außen wahrgenommen wird. Zwar sei er seit diesem Vorfall wieder auf Demonstrationen gewesen, allerdings erst mit einigem zeitlichen Abstand.

Zeugenaussage 2

Der Antrag auf Verlesen der Zeugenaussage der nicht ladungsfähigen Zeugin wird abgelehnt, nachdem sich RAin Janine Hilprecht als Verteidigerin von Marcel W. und RA Martin Voß als Verteidiger von Timo B. dagegen aussprechen.

Zeugenaussage 3 eines Geschädigten

Der Zeuge war am 1. September 2018 mit einem Freund und seinem Vater auf der „Herz statt Hetze“ Demonstration in Chemnitz. Er schilderte, wie er die Moritzstraße Richtung Annabergerstraße entlanglief, um nach Hause zu kommen. Dort wäre eine größere Menschengruppe aufgetaucht, eine Person habe „Zecken“ gerufen und die Gruppe sei geschlossen und gezielt auf den Zeugen und seine Begleiter zugekommen. Sie waren seiner Erinnerung nach laut und riefen „Heil Hitler“. Auch Hitlergrüße seien aus der Gruppe heraus gezeigt worden. Ihm wurde eine Peace-Fahne entrissen und die Fahnenstange zerbrochen. Was damit dann passiert sei, weiß er nicht. „Ich wurde körperlich nicht angegriffen. Ich bin dann sehr schnell aus der Situation gegangen, damit ich nichts abbekomme“, schildert der Zeuge den weiteren Ablauf. Waffen oder waffenähnliche Gegenstände habe er nicht wahrgenommen. Auf einem ihm vorgelegten Kartenausschnitt zeigt er die Kreuzung Annabergerstr./Moritzstr. als Ort des Vorfalls.

Die Tat hat Eindruck bei ihm hinterlassen, sagt er. Er schaue sich seither öfters um. In den Monaten und Jahren danach hat er sich unwohl gefühlt. Heute sei dies aber zum Glück wieder besser geworden.

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