Prozessdoku 10. Januar 2024

Vierter Verhandlungstag: Prozess um Ausschreitungen 2018 in Chemnitz

Vierter Prozesstag am 19.12.2023

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Beginn

Kurz nach 9 Uhr beginnt der vierte Verhandlungstag am Landgericht Chemnitz. Es sind alle anwesend, bis auf den Verteidiger Werner Siebers, dessen Akteneinsicht genehmigt und vorbereitet ist. Verteidiger Martin Voß lehnt die Anfrage des Gerichtes ab, die Akte für Verteidiger Siebers mitzunehmen, weshalb sie ihm zugesandt wird.

Zeugenaussage 1 eines Geschädigten und Nebenklägers

Der erste Zeuge an diesem Tag tritt als Nebenkläger in dem Prozess auf. Er schildert an der „Herz statt Hetze“ Demonstration am 1. September 2018 in Chemnitz teilgenommen zu haben. Als es am Rande der Demo zu Unruhen kam, verließ er mit seinen zwei Begleiter*innen die Demo. Sie wollten auf schnellstem Wege nach Hause und dieser habe durch die Moritzstraße geführt. Dort bemerkten sie einen Tumult, an dem sie vorbei huschen wollten. Erst kurz vor Erreichen des Tumultes bemerkten sie, dass es sich hierbei um eine Gruppe „Nazis“ gehandelt habe, die auf andere Gegendemonstrant*innen getroffen sei. Er beschreibt, dass jemand an seinem Rucksack zog und eine Fahne daraus entnahm, die er zuvor auf der „Herz statt Hetze“ Demo mitgenommen hatte. Er sei dann von einem kleineren Mann zur Seite genommen und unvermittelt auf die Schläfe geschlagen worden. Auf seine Frage an den Angreifer, was er da mache, bekam er weitere Schläge ins Gesicht als Antwort. Er wehrte sich nicht. Durch den Ausruf „Adolf Hitler Hooligans“ einer anderen Person habe der Angreifer von dem Zeugen abgelassen und die Gruppe zog weiter. Die Schläge hinterließen eine Beule an seiner oberen rechten Schläfe und tagelange Kopfschmerzen. Platzwunden trug er keine davon. Seine Begleiter*innen hatte er aus den Augen verloren, von den umstehenden Personen bot ihm niemand Hilfe an.

Auf Fotos, welche ihm 2019 vorgelegt wurden, hatte er Grigor K., Lasse R., Heiko M. und Pierre S. B. als Teil der Angreifergruppe erkannt. Heute kann er dazu nichts mehr sagen, da seine Erinnerung nach fünf Jahren zu stark verblasst ist. Durch das Erlebte hat er das Vertrauen in den Rechtsstaat verloren, erklärt er. Früher hätte er sich darauf verlassen, dass zeitnah durchgegriffen wird, wenn ihm etwas Schlimmes passieren sollte. Dass es fünf Jahre dauerte, bis der Fall verhandelt wird habe ihn sehr enttäuscht.

Er erkennt niemanden der Beschuldigten als Tatbeteiligten wieder. Damals habe er keine Schlagwerkzeuge oder -waffen wahrgenommen. Der Mann, von dem er geschlagen wurde, habe keine Handschuhe getragen. Auf ihn wirkte es so, als ob die Gruppe geschlossen agierte und sich über den Ausruf „Adolf Hitler Hooligans“ zum Weitergehen verständigte. Diese Ansage sei von einer Person der Gruppe ausgegangen.

Zeugenaussage 2 eines Geschädigten und Nebenklägers

Auch der zweite Zeuge dieses Tages ist Nebenkläger des Verfahrens. Er war gemeinsam mit dem ersten Zeugen auf der „Herz statt Hetze“ Demo. Er schildert ebenso den Verlauf ihres Weges von der Demo über die Moritzstraße, wo sie an der Ecke Annabergerstraße/Moritzstraße auf die Angreifergruppe getroffen seien. Als er bemerkte, dass diese an seinem Begleiter herumzerrten, habe er versuchte, seinen Freund weg zu ziehen. Dies gelang ihm allerdings nicht. Auch seine Begleiterin hatte er in dem Tumult aus den Augen verloren. Vier bis fünf Menschen hätten sich dann um ihn herumgestellt und begonnen auf ihn einzuschlagen und ihn zu treten. „Auf mich haben alle, die um mich herumstanden, eingeprügelt. Eine Person hat sich vor mir aufgestellt und traktierte mich mit seinen Fäusten im Gesicht. Die anderen, die um mich herum standen haben mit getreten. Die Tritte trafen mich an den Beinen. Ich bin zum Glück nicht hingefallen. Ich konnte zurückweichen und aus der Situation flüchten.“, schildert er das damals Erlebte. Er sei dann die Moritzstraße in die Richtung zurück gegangen, aus der er gekommen war, und dort an einen Polizeitransporter herangetreten, dessen Tür er aufriss. Er habe in den Transporter gerufen, dass seine Begleiter*innen gerade von Nazis angegriffen werden und dass da schnell etwas unternommen werden muss. Er sagt, er hatte zu diesem Zeitpunkt große Angst, dass die Angreifer die beiden mitgenommen haben.

Schlagwaffen hatte er keine wahrgenommen. Allerdings meint er sich an Handschuhe erinnern zu können. Durch den Angriff hatte er Schmerzen und eine Schwellung im Gesicht, die auch Tage danach noch vorhanden war. Viel schlimmer war für ihn jedoch der Schock, den er durch das Erlebte erlitt. Die Alltagsroutine in den Tagen danach habe ihm geholfen. Den Ort, an dem es passierte, habe er noch lange gemieden und er insgesamt sei er bedachter durch die Stadt gelaufen. „Dass es lange Zeit keinen Prozess gab, das hat mich sehr mitgenommen. Ich habe mich gefragt, wie es sein kann, dass Menschen derart auf Prügeltour gehen können, ohne dass das Konsequenzen hat. Das hat mich sehr unsicher gemacht. Ich bin auch danach ein bis zwei Jahre nicht mehr auf Demos gegangen. Für mich bestand immer die Gefahr diese Menschen auf einer Demo wieder zu treffen. Deshalb habe ich das gemieden.“, beschreibt er weitere Folgen der Tat.

Zeugenaussage 3 einer Geschädigten

Die Zeugin nahm mit dem ersten und dem zweiten Zeugen dieses Prozesstages an der „Herz statt Hetze“ Demo teil. Auch sie beschreibt wie die beiden anderen Zeugen ihren Weg von der Demo zur Moritzstraße und das Aufeinandertreffen mit den Angreifern. Sie erzählt, wie sie gesehen habe, dass ihre beiden Begleiter direkt körperlich angegriffen wurden und sie versucht habe einen der beiden weg zu ziehen, was ihr nicht gelang. Dann habe sie gefragt, warum sie das machen, und erhielt zur Antwort „Wegen euch werden Deutsche abgestochen!“. Es habe sich jemand vor sie gestellt und gesagt, dass sie sich erst mal Brüste wachsen lassen solle. Sie wurde körperlich nicht angegriffen. Allerdings sei ihr einer der Männer sehr nah gekommen und habe  ihr mitgeteilt, dass er normalerweise keine Frauen schlage, aber dass er ja mal eine Ausnahme machen könne. „Da hatte ich Angst, dass er mir Gewalt antut. Das war für mich eine absolute Gefahrensituation.“, sagt sie. Als sie darauf nicht reagierte, habe er gefragt „Soll ich dich küssen?“.

„Das war sehr gruselig. Er stand ganz nah und lachte. Ich konnte gar nicht reagieren. Für mich war das schlimm. Zuerst die Androhung von Gewalt, dann das klein machen und darauf reduziert werden, dass ich eine Frau bin. Das hat sehr an mir genagt. Ich hatte Angst, dass mir das wieder passieren könnte. Ich merke noch heute, dass ich in Gefahrensituationen anfange zu zittern und nervös werde.“, beschreibt sie die Wirkung und die Folgen des Erlebten.

Auf Fotos, die ihr 2019 vorgelegt wurden, erkannte sie Lasse R. als die Person, die ihr mit Gewalt gedroht und sie misogyn beleidigt hatte.

Die drei Zeug*innen erinnern sich an einen blutenden Mann, der an einer Laterne an der Ecke Annabergerstraße/Moritzstraße saß. Dieses Bild habe bei allen einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Zeugenaussage 4 und 5 zweier Geschädigter

In einer Dreiergruppe besuchten sie damals die „Herz statt Hetze“ Demo und gelangten auf ihrem Nachhauseweg ebenfalls in die Moritzstraße. An der Ecke Moritzstraße/Reitbahnstraße sei eine Gruppe von etwa fünf jungen, sehr aggressiven Männern auf sie zugekommen.   Ihr männlicher Begleiter bekam einen Faustschlag ins Gesicht und es habe ein Gerangel um seinen Rucksack gegeben. Die beiden Zeuginnen seien nicht körperlich angegriffen worden. Sie gingen anschließend zur nächsten Bahnhaltestelle und setzten ihren Heimweg fort. Eine der beiden hatte einen großen Teddybären dabei, um auf der Demo aufzufallen. Es habe eine Äußerung aus der Angreifergruppe gegeben ihr den Teddy weg zu nehmen. Dies geschah allerdings nicht. Beide können sich nicht an Schlagwaffen und Handschuhe erinnern und erkennen niemanden im Gerichtssaal wieder.

Eine der beiden Zeuginnen erkannte in einer Vernehmung 2019 Lasse R. als Beteiligten, der auch gehandelt und den Geschädigten aus ihrer Gruppe geschlagen haben könnte. Zu den Beschuldigten Mike J., Mark B., Timo B., Jim K. und Marvin C. gab sie an, dass diese dabei gewesen sein könnten. Ihre Aussage von 2019 konnte sie heute, aufgrund von Erinnerungslücken, nur noch teilweise bestätigen. 

Zeuge nicht erschienen und Wunsch nach Rechtsgespräch

Der dritte Begleiter der Gruppe und Geschädigte des Faustschlages ist als Zeuge nicht erschienen. Es wird im weiteren Verlauf der Verhandlung auf ihn verzichtet, da er in der Vernehmung von 2019 niemanden erkannt und belastet hatte.

Der Verteidiger des Beschuldigten Timo B. äußert den Wunsch die Verhandlung frühzeitig und ohne Urteil zu beenden, da bisher keiner der Beschuldigten erkannt worden sei. Er weist darauf hin, dass einer der Nebenkläger während der Verhandlung gelacht habe und fügt hinzu, dass den Nebenklägern das Lachen eventuell noch vergehe, für den Fall, dass die Beschuldigten freigesprochen würden und sie die Kosten der Nebenklage selbst tragen müssen. Er äußert den Wunsch nach einem weiteren Rechtsgespräch.

Der vorsitzende Richter macht daraufhin den Vorschlag die Unterbrechung, welche durch das Ausbleiben des Zeugen entsteht, für ein Gespräch zwischen Nebenklagevertreter*innen und Verteidiger*innen zu nutzen. Ein Ergebnis dieses Gespräches wird nicht bekannt gegeben.

 

 

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