Erster Verhandlungstag: Prozess um Ausschreitungen 2018 in Chemnitz
Am 11. Dezember 2023 begann der Prozess am Landgericht Chemnitz um gewalttätige Ausschreitungen vom 1. September 2018 in Chemnitz.
Was war geschehen?
2018 rückte Chemnitz ins Zentrum der medialen Öffentlichkeit. Nachdem in der Nacht vom 25. auf den 26. August ein junger Mann durch einen Messerangriff getötet wurde, vereinnahmte die extrem rechte Szene den Tod für ihre politischen Zwecke. In den darauffolgenden Wochen wurde Chemnitz immer wieder Schauplatz für politisch motivierte Gewaltstraftaten und Austragungsort für extrem rechte Demonstrationen. So auch am 1. September 2018.
An diesem Tag waren mehrere Veranstaltungen im Stadtgebiet angemeldet. Über den Nachmittag gab es eine Demonstration der „Bürgerbewegung Pro Chemnitz“, die seit Ende 2018 vom Verfassungsschutz wegen der Vermutung einer rechtsextremen Ausrichtung beobachtet wird. Nach dessen Ende schlossen sich viele Teilnehmer*innen einem Schweigemarsch an, der von Pegida, AfD Sachsen, AfD Brandenburg und AfD Thüringen gemeinsam veranstaltet wurde und gegen 19.30 Uhr endete.
Etwa zur selben Zeit endete auch eine Kundgebung des Bündnisses Chemnitz Nazifrei unter dem Motto „Herz statt Hetze“. Auch hierfür waren Menschen aus dem ganzen Bundesgebiet angereist.
Was im Folgendem an diesem Abend geschah ist Gegenstand des Verfahrens am Landgericht Chemnitz.
Das Verfahren und die Angeklagten
Angeklagt sind neun männliche Personen. Sie waren Teilnehmer des „Trauermarsches“ und wurden in einer größeren Personengruppe am Abend des 1. Septembers 2018 in Chemnitz polizeilich erfasst. Ihnen wird Landfriedensbruch und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Von den neun Angeklagten erschienen vier. Gegen zwei der neun Beschuldigten, Heiko M. aus Freital und Daniel K. aus Dresden, wurde das Verfahren eingestellt. Grund dafür ist, dass beide in anderen Strafverfahren bereits eine derart hohe Strafe erhalten haben, dass das geschilderte Verfahren für eine Straferhöhung nicht mehr ins Gewicht fällt. Auch das Verfahren gegen Grigor K. wurde vorläufig eingestellt, da dieser nicht auffindbar ist.
Ein weiterer Beschuldigter, Steven F., ein nicht unbekannter rechter Blogger und Influencer, ist auf der Flucht, nachdem er eine Haftstrafe, die er am 17. November2023 hätte antreten müssen nicht antrat. Ein weiterer Angeklagter, Pierre B. aus Braunschweig, befindet sich derzeit aufgrund einer schweren suizidalen Krise in einer psychiatrischen Klinik. Das Verfahren gegen die beiden Beschuldigten wird abgetrennt.
Die vier verbleibenden Beschuldigten sind heute zwischen 26 und 44 Jahren alt. Neben den beiden angeklagten Marcel W. und Rico W., welche aus der Region um Chemnitz kommen, sind die Angeklagten Timo B. aus Helmstedt und Mark B. aus Goslar aus Niedersachsen angereist. Einer wurde von seiner Mutter begleitet, die während der Verhandlung im Zuschauerraum Platz nahm. Darüber hinaus waren keine Angehörigen oder Unterstützer*innen vor Ort. Keiner der vier hat sich vor Gericht zu den Anschuldigungen geäußert.
Unter den Pflichtverteidiger*innen sticht ein Anwalt hervor. Es handelt sich hierbei um Wolfram Narath. Narath war Vorsitzender der 1994 verbotenen Wiking-Jugend (WJ), einer neonazistischen Kinder- und Jugendorganisation, Funktionär in der NPD und ist bekannt als Nazi-Szene-Anwalt. Er vertritt den Angeklagten Mark B. Die drei weiteren Pflichtverteidiger sind Heiko Schönfelder und Martin Voß aus Braunschweig und Janine Hilprecht aus Chemnitz.
Auf der anderen Seite der Anklagebank sitzen neben dem Generalstaatsanwalt die drei Nebenklageanwält*innen Frau Dr. Kati Lang, Kristin Pietrzyk und Onur U. Özata. Der vorsitzende Richter Zöllner wird von zwei Richter*innen und Schöff*innen unterstützt.
Vor Ort
Der Prozess, der fünf Jahre auf sich warten ließ, begann um 9.00 Uhr im größten Sitzungssaal des Landgerichts Chemnitz. Nach dem Betreten des Gebäudes wurde man unmittelbar mit den erhöhten Sicherheitsvorkehrungen konfrontiert. Ähnlich der Sicherheitsschleusen an Flughäfen fand eine umfangreiche Taschen- und Personenkontrolle statt. Vor dem Betreten des Sitzungsaales folgte eine weitere Sicherheitsmaßnahme. Hier wurden die Personalausweise kopiert und Taschen mussten abgegeben werden. Flüssigkeiten, wie Getränke und auch Speisen durften nicht mit rein. Handys mussten ausgeschaltet werden oder ebenfalls draußen verbleiben.
Der große Ansturm, der scheinbar erwartet wurde, blieb allerdings an diesem ersten Verhandlungstag aus. Zwar war das Medieninteresse groß, ansonsten bleiben die Stühle im Zuschauer*innenbereich größtenteils leer.
Während die Anklageschrift verlesen wurde herrschte eine ruhige, konzentrierte Stimmung im Saal. Die Angeklagten wirkten unbeteiligt, verzogen keine Miene. Anschließend folgte ein Rechtsgespräch, welches jedoch ohne Ergebnis blieb.
Aussagen
Von den zwei geplanten Zeugenaussagen fand lediglich eine statt. Ein Zeuge ließ sich entschuldigen und wird zu einem späteren Zeitpunkt seine Aussage abgeben.
Die verbliebene Zeugin ist die Polizeibeamtin, welche für den Staatsschutz bis Ende 2020 die Ermittlungen zu dem Fall leitete. Ihre Aussage gibt Einblicke in eine Ermittlung mit gravierenden Lücken. So wurde ihre Unterstützungsanfrage für mehr personelle Ressourcen abgelehnt. Begründet wurde dies damit, dass das nicht relevant sei bzw. die Prioritäten bei anderen Ermittlungen liegen.
So gewann man bei ihrer Aussage den Eindruck, dass es während der Ermittlungen keine fortwährenden Recherchen zu den Hintergründen der Angeklagten, wie beispielsweise Parteimitgliedschaften, gegeben hat. Doch auch bereits am Abend des 1. September habe es keine Ortsbegehung gegeben mit dem Ziel nach Tatwerkzeugen, wie Schlagstöcken o.ä. zu suchen, obwohl mehrere der festgestellten Personen Kampfspuren, wie Blut, an ihrer Bekleidung aufwiesen. Die Zeugin bestätigte, dass die Beschuldigten unter den festgestellten Personen waren und skizzierte den Weg, den die Gruppe vom Verlassen der Demonstration bis zur Feststellung zurückgelegt hatte. Ob die Gruppe geschlossen agierte und ein gemeinsames Gruppeninteresse verfolgte, konnte nicht zweifelsfrei festgestellt werden und bleibt Bestandteil des weiteren Prozessverlaufes.