Tödliche Ignoranz
Zehn Jahre nach dem Mord an Marwa el-Sherbini in Dresden wird das Ausmaß rassistischer Gewalt immer noch verkannt. Das ist eine Gefahr für uns alle.
Perspektivenbeitrag in der Sächsischen Zeitung vom 1. Juli 2019
Zehn Jahre nach dem Mord an Marwa el-Sherbini in Dresden wird das Ausmaß rassistischer Gewalt immer noch verkannt. Das ist eine Gefahr für uns alle.
Vor zehn Jahren erschütterte der rassistische Mord an der jungen Ägypterin Marwa El-Sherbini die Stadt. Der rassistisch motivierte Mord steht in der Kontinuität rechter Morde seit der Wiedervereinigung und verdeutlicht die tödliche Dimension rechter Gewalt in Deutschland. Heute ist ein wich- tiger Tag, um an Marwa El-Sherbini und ihre Geschichte zu erinnern und zu reflektieren, was seitdem geschehen ist. Die Erinnerung an den Mord ist von zentraler Bedeutung, denn Rassismus und antimuslimischer Rassismus sind heute aktueller denn je. Allein im letzten Jahr waren von 317 Angriffen 208 Angriffe rassistisch motiviert.
Die junge Ägypterin wurde am 1. Juli 2009 während einer Berufungsverhandlung am Dresdner Landgericht vom Angeklagten A. Wiens mit 18 Messerstichen vor den Augen ihres Ehemanns, ihres dreijährigen Sohnes sowie aller im Gericht Anwesenden ermordet. Gegenstand der Verhandlung waren rassistische Beleidigungen, die der Täter gegenüber Marwa El- Sherbini auf einem Spielplatz in der
Dresdner Johannstadt äußerte. Ein Jahr dauerte das sich daran anschließende Strafverfahren – bis zur Berufungsverhandlung am Landgericht. Als Marwa El-Sherbini nach ihrer Aussage den Zeugenstand verließ, stach der Angeklagte, ein bekennen- der NPD-Aktivist, auf sie ein.
Im Verfahren gegen den Mörder im zum Hochsicherheitstrakt umgebauten Verhandlungssaal am Landgericht Dresden konnte das Motiv mit Bestimmtheit geklärt werden. Die rassistische und antimuslimische Einstellung des Täters wurde detailliert nachgezeichnet und umfassend berücksichtigt. Mit dem Nachweis des rassistischen Motivs als niederer Beweggrund war die Verurteilung wegen Mordes möglich.
Das Erkennen und die entsprechende Würdigung des Tatmotives ist jedoch nach wie vor eines der größten Probleme in Strafprozessen, obwohl auf Empfehlung des Bundestagsuntersuchungsausschusses zum NSU 2015 der § 46 StGB zur Strafzumessung erweitert wurde um „rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende“ Beweggründe des Täters. Dies geschah insbesondere um zu gewährleisten, dass die Staatsanwaltschaft und das Gericht die Motivation einer Tat ausreichend aufklären und so auch der gesellschaftlichen Bedeutung vorurteilsmotivierter Straftaten Rechnung tragen.
Medial gab es auf den Mord – trotz der Dramatik – anfänglich wenig, zu wenig Resonanz. Erst nach dem Aufschrei in der arabischen Welt wurde auch in Deutschland die politische Dimension des Verbrechens erkannt. Damit ist der Fall Marwa El-Sherbini vergleichbar mit anderen Fällen rechter Gewalt, die oft nur geringe mediale wie gesellschaftliche Aufmerksamkeit erfahren. Denn Opfer rassistischer und rechter Gewalt sind meist Personen, die von der Mehrheitsgesellschaft als „Fremde“ und als nicht dazugehörig begriffen werden. Vor allem Obdachlose, Asylsuchende und Migrant*innen verfügen nach wie vor über kaum eine Lobby.
So dürfte nur wenigen Menschen bekannt sein, dass seit 1990 mindestens 169 Menschen durch rechte Gewalt ums Leben gekommen sind, 17 davon in Sach- sen. Um diese tödliche Dimension ins öffentliche Bewusstsein zu rücken, bedarf es einer stärkeren Wahrnehmung der Betroffenen, ihren Erfahrungen muss in der Öffentlichkeit mehr Gehör verschafft werden, und es braucht eine politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den menschenverachtenden Einstellungen, die die Grundlage für vorurteilsmotivierte Gewalt und ihre in der Konsequenz tödlichen Dimension sind.
Die Stadt Dresden sowie die städtische Zivilgesellschaft haben sich durchaus mit dem Mord beschäftigt, etwa mit jährlichen Gedenkveranstaltungen, einer Fotoausstellung „Wir sind Dresdnerinnen“ des Frauentreffs des Ausländerrates, der Ausstellung „18 Stiche“ von Bürger Courage oder dem Sammelband „Tödliche Realitäten“. Seit 2011 lobt zudem die Stadt das „Marwa El-Sherbini Stipendium für Weltoffenheit und Toleranz“ aus.
Dennoch hat sich die Situation für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt kaum verbessert. Dies zeigen die Ereignisse der letzten Jahre und wird belegt durch unser unabhängiges Monitoring rechter und rassistischer Gewalt in Sachsen. So haben wir im Jahr 2018 insgesamt 317 Angriffe mit mehr als 481 Betroffenen gezählt. Statistisch gesehen wird in Sachsen mindestens an jedem zweiten Tag ein Mensch Opfer. Die Dunkelziffer wird um einiges höher sein, dies hat zuletzt auch die Studie zu homophober Gewalt der LAG Queeres Netzwerk in Sachsen verdeutlicht. So gibt eine eklatante Wahrnehmungslücke zum Ausmaß homo- und transphober Gewalt in Sachsen – 55 durch das Innenministerium zwischen 2001 und 2017 registrierte Fälle im Vergleich zu mehr als 1000 Fällen, die im Rahmen der Online-Studie für den Zeitraum 2012 – 2017 gemeldet wurden. Eine eklatante Wahrnehmungslücke, die auch wir feststellen und die dringend zu schließen ist, um ein realistischeres Bild vom Ausmaß der Gewalt zu bekommen. Nur so lassen sich angemessene Strategien entwickeln, um darauf zu reagieren.
Denn dieses Wahrnehmungsdefizit führt zu Fehleinschätzungen, unter anderem in der Bewertung von politischen Ereignissen. Im Jahr 2018 haben wir aufgrund der Ausschreitungen im Sommer in Chemnitz einen Anstieg rechter Gewalttaten um fast 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr registriert. Mehrere Tausend Rassisten, Rechte und Neonazis gingen mehrere Tage in Chemnitz auf die Straße, bei Demonstrationen instrumentalisierten sie die Tötung eines Menschen, um gegen Geflüchtete, Migranten, Linke und Medien zu hetzen und Gewalt auszuüben. In der Folge häuften sich rassistisch motivierte Attacken in der Stadt, Anschläge auf Restaurants, eine Gruppe Neonazis ging als „Bürgerwehr“ gegen Migranten vor, bis sie wegen des Verdachts der Bildung einer rechtsterroristischen Vereinigung festgenommen wurden. Anklage ist inzwischen durch den Generalbundesanwalt erhoben. Die Gruppe soll tödliche Anschläge geplant haben.
Chemnitz war kein Einzelfall. Erinnert sei hier an die Lichtelläufe in Schneeberg 2013, den Start der Pegida-Bewegung in Dresden im Oktober 2014, die beide mit einer Zunahme rechter Gewalttaten einhergingen. Es folgten Ausschreitungen in Freital, Heidenau und Dresden im Sommer 2015, in Bautzen und Wurzen 2016 und 2017. Die „Gruppe Freital“ verübte 2015 Anschläge auf Geflüchtetenwohnungen, das links-alternative Stadtviertel Leipzig Connewitz wurde 2016 von über 200 Nazis und Hooligans angegriffen. Nino K. verübte 2016 einen Rohrbombenanschlag auf eine Moschee in Dresden. Somit ist Chemnitz nur die Spitze des Eisberges rechter und rassistischer Mobilisierungen und damit einhergehender Radikalisierung in den letzten Jahren in Sachsen. Die Verfahren gegen Gruppen wie Revolution Chemnitz, Gruppe Freital sowie den Moschee-Attentäter Nino K. zeigen ferner, dass vor Waffen und Sprengstoff letztlich mit dem Ziel, Menschen zu töten, nicht zurückgeschreckt wird.
Darunter leiden nicht nur die betroffenen Menschen und deren Freunde und Familien. Es verunsichert auch alle, die ebenfalls ins Feindbild der rechten Gewalttäter passen oder einfach in einer offenen, vielfältigen Gesellschaft leben wollen. In einer jüngst von der RAA Sachsen veröffentlichten Studie zu Wahrnehmungen von Sachsen äußerte einer der Befragten, dass wohl momentan niemand eine Städtereise nach Dresden gewinnen möchte. Die Wahrnehmung des Bundeslands ändert man aber nicht einfach durch PR-Kampagnen. Es bedarf eines ehrlichen Problemeingeständnisses und der kontinuierlichen Bearbeitung gemeinsam mit den hier lebenden Menschen – ohne pauschale Verurteilungen, aber klar in der Analyse.
Vor zehn Jahren starb Marwa El Sherbini vor den Augen ihrer Familie in einem Dresdner Gerichtssaal. Das für die Familie damit einhergehende Leid ist unermesslich, ihnen gilt weiterhin unser tiefes Mitgefühl. Die zehn Jahre, die zwischen heute und dem Mord an Marwa El-Sherbini liegen, verdeutlichen, dass das Ausmaß rechter Gewalt eher größer, bedrohlicher und für viel mehr Gruppen realer geworden ist. Daher ist es auch falsch, nach dem Mord an dem Kassler Regierungspräsidenten Walter Lübcke von einer neuen Dimension rechter Gewalt zu sprechen. Betroffene rechter Gewalt – seien es Lokalpolitiker, Geflüchtete oder ehrenamtlich Engagierte – erwarten, dass sie ernst genommen, ihre Forderungen gehört und auch umgesetzt werden.
Der Artikel erschien zuerst am 1. Juli 2019 in der Sächsischen Zeitung