Starke Frauen im Osten, Frauenpower für Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit
Unter diesem Titel fand am 26.08.2019 im OSSI ein Fachtag, anlässlich des 70. Geburtstages unserer Vorstandsvorsitzenden Helga Nickich,statt. Prof. Dr. Ulrike Gräßel von der Hochschule Zittau-Görlitz präsentierte eine spannende Gegenüberstellung von Frauenstrukturen und -quoten im Westen und Osten Deutschlands und erläuterte, welchen unterschiedlichen Barrieren viele Frauen in ihrem Leben ausgesetzt sind. Den gesamten Fachbeitrag haben wir hier für Sie dokumentiert.
Starke Frauen im Osten
Frauenpower für Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit (von Prof. Dr. Ulrike Gräßel, Redemanuskript)
Sehr geehrte, liebe Frau Nickich,
ich freue mich sehr, dass ich heute die Gelegenheit habe, Sie kennenzulernen. Das heißt, ich kenne Sie (noch) nicht und werde deshalb auch NICHTS zu Ihrer Person sagen – das werden andere übernehmen.
Was ich von Ihnen aber weiß, ist, dass Sie gleich nach der Wende den Verein Regionale Arbeitsstelle für Bildung, Demokratie und Lebensperspektiven e.V. Hoyerswerda Ostsachsen gegründet und ausgebaut haben von einem Einfrau-Unternehmen zu einem mittlerweile 20mitarbeiterinnen- und mitarbeiterstarken verlässlichen Partner für Schulen, Kindertagesstätten, freie Träger der Jugendhilfe und andere Bildungsakteure bei der Begleitung und Gestaltung von demokratischen Entwicklungsprozessen. Wie über sie zu lesen ist, initiieren, organisieren und moderieren sie Projekte und Netzwerke, um Bildungsübergänge in den Biographien von Kindern und Jugendlichen zu begleiten, das zivilgesellschaftliche Engagement im Gemeinwesen zu unterstützen und rechtsextremistische und menschenverachtende Ideologien und Einstellungen zurückzudrängen.
Solche Sätze in Zeiten wie diesen zu lesen, ist eine Wohltat, da Ihr Verein durch diese Selbstdarstellung ganz sicher Inklusion befürwortet, dass Ihr Verein Diversität sowohl in schulischen Einrichtungen als auch in Einrichtungen der frühkindlichen Erziehung und Bildung nicht als zuförderst Behinderung, Belastung oder Störfaktor ansieht, sondern durchaus als Bereicherung für Kinder mit und ohne Migrationshintergrund, mit und ohne Behinderung, mit und ohne „guten“ Erfahrungen mit ihrem Herkunftsmilieu. Ich glaube auch nicht, dass Sie etwas gegen Angebote der offenen Kinder- und Jugendarbeit haben. Und Sie sprechen ganz sicher auch dem Sächsischen Bildungsplan keine verfehlte Zielführung ab. Ich bin mir sicher, dass sich Ihre Beteiligungs- und Bildungsangebote an alle Frauen und Männer, Jungen und Mädchen, die in Sachsen leben, richten, und nicht auf „deutsche“ Kinder begrenzt sind, alles Dinge, die von einigen Politikern in einem „Regierungsprogramm für Sachsen“ in Frage gestellt werden.
Wie gesagt: Schön, dass es Vereine wie die Ihren gibt! Lassen Sie sich nicht beirren!
Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit haben Sie sich auf die Fahnen geschrieben – und mir in den Vortragstitel – kombiniert mit „Starken Frauen im Osten“ und „Starken Frauen in Sachsen“.
Was Sie in dem Titel dieser heutigen Zusammenkunft fokussieren, ist der unauflösliche Zusammenhang von Frauen bzw. Mädchen, Bildung und Starksein. Und das ist richtig: Die Voraussetzung für Chancengleichheit ist Bildungsgerechtigkeit! Bildung ist die Grundlage für ein eigenständiges Leben – ich meine jetzt ganz konkret ein eigenständiges Leben, ohne auf Transferleistungen angewiesen zu sein – ein eigenständiges Leben selbstverständlich für Frauen UND Männer. Aber lassen Sie uns heute über Frauen und Mädchen reden, über Mädchen im Bildungssektor und anschließend über Frauen im darauf folgenden Berufsleben.
Wichtig ist vorauszuschicken, dass mit entsprechenden Angeboten auch Entsprechendes erreicht werden kann: Sind die klassischen bildungsbenachteiligten Jugendlichen von heute die Jungen mit Migrationshintergrund in der Großstadt, so waren die klassischen bildungsbenachteiligten Jugendlichen der 60er Jahre – zugegeben im Westen: die katholischen Mädchen vom Lande. Doch – wie gesagt – das ist vorbei, das hat eine konsequente, damals leider noch nicht gendersensible, sondern mädchenfokussierte Bildungspolitik erreicht (es geht also, wenn man will!):
Mädchen sind in der Schule heute tatsächlich erfolgreicher als Jungen! Sie werden früher eingeschult, wiederholen seltener eine Klasse und erreichen häufiger einen höheren Schulabschluss. Sie haben gegenüber Jungen einen Vorsprung in der Lesekompetenz[1], aber weniger ausgeprägte mathematische Kompetenzen[2]. Stichwort Mathematik und Naturwissenschaften, ein Bereich, der zum Leidwesen vieler Bildungspolitikerinnen und Arbeitsmarktforscher Mädchen „nicht so liegt“.
Hier beißt sich die Schule tatsächlich die Zähne aus, da diese weiblichen Vorbehalte gegenüber den sogenannten MINT-Fächern, also gegenüber Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, erklärt werden können durch das Phänomen Gender, also durch die Tatsache, dass Geschlecht hergestellt wird, in realen Situationen konstruiert wird und zwar immer abhängig von den herrschenden Vorstellungen von Geschlecht.
Es geht also um Geschlechterstereotypen, um Selbst- und Fremdeinschätzungen, also darum, was traue ich mir zu und was wird mir zugetraut und letztendlich: was traue ich mir zu, WEIL mir etwas zugetraut wird – oder eben auch nicht! Hier geht es aber auch um die Frage, was meine ich, was zu mir passt (Selbstkonzept!) und was meinen andere, was zu mir passt (Fremdkonzept!) und letztendlich: was tue ich, wenn mir was passt, was andere unpassend finden!
Was heißt das konkret am Beispiel Mädchen und Mathematik?
Eine Studie konnte zeigen, dass die Frage, wie Frauen in Mathematiktests abschneiden, von ihrer persönlichen Einstellung abhängt. Und zwar werden ihre Ergebnisse davon beeinflusst, ob sie an genetische oder soziale Ursachen für den Unterschied zwischen Männern und Frauen bei mathematischen Leistungen glauben. Mehr als 220 Kandidatinnen lösten für eine entsprechende Untersuchung Mathematikaufgaben, zwischendurch lasen sie jeweils einen Aufsatz, in dem die mathematischen Fähigkeiten von Frauen unterschiedlich erklärt wurden. Diejenigen Frauen schnitten bei den Tests am schlechtesten ab, die zuvor den Aufsatz gelesen hatten mit der Behauptung, dass Frauen aus genetischen Gründen schlecht in Mathe sind. Bessere Ergebnisse hatten diejenigen Frauen, die gelesen hatten, dass unterschiedliche Mathematikkompetenzen soziale Ursachen haben, und zwar unterschiedliche Lebenserfahrungen von Männern und Frauen. Um am besten schnitten die Frauen ab, die gelesen hatten, dass es in Mathematik Unterschiede zwischen den Geschlechtern überhaupt nicht gibt![3]
Das ist doch wirklich unglaublich, oder? Das heißt, dass bereits solche Winzigkeiten die (mathematischen) Leistungen von Frauen (und natürlich auch von Männern) beeinflussen!
Und jetzt stellen Sie sich bitte ein 15jähriges pubertierendes Mädchen bei der Berufs- oder Fächerwahl vor, dessen Hauptproblem im Moment die Zerissenheit ist zwischen der eigenen Identität – dem Selbstbild – und der Wirkung auf andere – dem Fremdbild. Was macht eine 15jährige mathematikbegeisterte Schülerin, deren – männlicher – Schwarm und deren beste Freundin meinen, Mathe ist nur was für Nerds, also für langweilige Jungs?!
Ich wollte ja eigentlich nichts weiter über Jungs erzählen, aber dann konnte ich mir’s doch nicht verkneifen: Was die schulische Sozialisation angeht, kann man sagen, dass Schülerinnen und Schüler, die fleißig, zuverlässig, gut organisiert, verantwortungsbewusst und diszipliniert sind, dadurch ein Arbeitsverhalten an den Tag legen, das für einen Schulerfolg zuträglicher ist und zu entsprechend besseren Noten führt, und zwar unabhängig vom Geschlecht. Allerdings sind im Durchschnitt diese Merkmale bei Mädchen deutlich stärker ausgeprägt als bei Jungen, genauso wie die kognitiven und affektiven Einstellungen gegenüber Schule und Lernen bei den Mädchen positiver ausgeprägt sind als bei Jungen[4]. Weiterhin weisen verschiedene Studien darauf hin, „dass eine bestimmte Form des maskulinen Selbstbildes – in den Augen von Jungen, aber auch von Lehrkräften – als schlecht vereinbar mit schulischem Engagement gilt und dass sich Jungen in der Schule zu wenig anstrengen, weil sie nach außen hin möglichst ‚cool‘ und männlich erscheinen wollen.“[5]
Weiter mit den positiven Leistungen der Mädchen: Sie machen häufiger Abitur und sind die Mehrheit derjenigen, die ein Studium anfangen. Junge Frauen brechen das Studium seltener ab und sind somit auch die Mehrheit der Absolventinnen. Und als junge Berufstätige nutzen sie auch die Angebote der Weiterbildung intensiver[6]. Wenn sie die Hauptschule absolvieren, erhalten sie im Schnitt allerdings erst später einen Ausbildungsplatz als Jungen. Sie absolvieren dann aber eine Ausbildung eher im oberen Bereich der Berufsgruppen. All das sieht bei den Jungen schlechter aus, vor allem wenn sie aus bildungsfernen Elternhäusern stammen oder/und einen Migrationshintergrund haben[7].
In Übereinstimmung mit diesen bundesweiten Trends gilt dies auch für Sachsen. So stellt der Dritte Sächsische Kinder- und Jugendbericht ebenfalls fest, dass Mädchen in der Schule deutlich erfolgreicher sind als Jungen, und dies kontinuierlich seit mehr als 10 Jahren. Auch in Sachsen erreichen junge Frauen höhere Schulabschlüsse, verlassen die Schule seltener ohne Abschluss und auch seltener mit Hauptschulabschluss, und sie sind auch weniger unter denjenigen, die eine Klasse wiederholen müssen.[8]
Mädchen in Sachsen geben auch deutlich häufiger als Jungen gute und sehr gute Benotungen an.[9] Mehr Mädchen als Jungen erlangen die Allgemeine Hochschulreife, dagegen gab es mehr männliche Hauptschulabsolvierende, von denen aber dann weniger einen qualifizierenden Hauptschulabschluss machten als Mädchen. Auch in Sachsen liegen die jungen Frauen bei den Abschlussprüfungen in der beruflichen Bildung vorne. Aber was lernen[10] die sächsischen Mädchen im Jahr 2016: Immer noch Verkäuferin, Zahnarzthelferin, Hotelfachfrau und Friseurin. Ihr Anteil an Ausbildungsberufen wie KFZ-Mechatroniker beträgt 5% bzw. 4% bei Elektronikern[11].
Und weiter geht’s:
Mit 45,2% [12] machen im Freistaat Sachsen 2017 auch mehr Mädchen als Jungen (35,1%) Abitur, auch Ihre Bereitschaft zum Studium ist mittlerweile höher: 2017 haben sich 42,4% der jungen Frauen gegenüber 35,4% der jungen Männer für ein Studium entschieden.
Und was studieren diese jungen Frauen im Jahr 2019?
Offensichtlich alle Sozialarbeit: an der Hochschule Zittau/Görlitz mit einer Quote von 77,77%, oder noch lieber Sprachen mit rd. 90%. Im Fachbereich Maschinenwesen finden Sie dann unter 241 Studierenden 28 junge Frauen, im Fachbereich Elektrotechnik und Informatik unter 367 Studierenden 46 Frauen.
Und wie hoch ist die Männerquote in Sachsen von Studierenden des Lehramts im Primarbereich? Richtig: 10%[13]!
Zusammenfassend können wir feststellen, dass es einen Zusammenhang zwischen Bildungsbeteiligung, schulischem Bildungserfolg und Geschlecht gibt, und zwar tatsächlich derart, dass Mädchen und junge Frauen im Bildungssystem immer erfolgreicher werden. Bildungsgerechtigkeit haben wir – aus der Sicht von Mädchen und jungen Frauen also durchaus erreicht!
Trotzdem weist das Bundesjugendkuratorium darauf hin, dass sich „das schlechtere Abschneiden von Jungen in der Schule beim Übergang in den Beruf zuungunsten junger Frauen verschiebt“[14]. Ich wiederhole noch einmal: das schlechtere Abschneiden von Jungen in der Schule beim Übergang in den Beruf verschiebt sich zuungunsten junger Frauen. In einfacheren Worten ausgedrückt: Mädchen haben zwar die besseren Noten, es nützt ihnen aber nichts!
Das wird sich zeigen, wenn wir im Weiteren zur Chancengerechtigkeit kommen, und zwar zur Chancengerechtigkeit in Bezug auf „Arbeit“.
Widmen wir uns der Vor- und Wendezeit und ich beginne mit einer kleinen Provokation: Ost-Frauen sind anders. West-Frauen natürlich auch! Es kommt immer auf die Perspektive an!
Das ist nun nichts Neues, aber vielleicht lohnt sich doch noch einmal ein statistischer Blick auf diese Behauptung. Es herrscht mittlerweile Einigkeit darüber, dass der große Unterschied zwischen den Ost- und West-Vorstellungen von Frauen über ihre Rolle als Frau in der Gesellschaft daher rührt, dass es in der DDR eine „selbstverständliche“, politisch gewollte und gebrauchte Gleichstellung von Frau und Mann gab, im Westen war dies „oben“ in der Politik kein Thema, vielmehr erkannten Frauen „unten“ ihre Un-Gleichstellung und taten etwas dagegen.
Das Problem ist nun, dass sehr viele Ost-Frauen Benachteiligungen aufgrund ihres Geschlechts ganz einfach nicht sahen oder sehen wollten - und deswegen auch nichts bzw. wenig bzw. erst spät etwas dagegen taten.
Frauen im Osten sahen ihre Benachteiligungen nicht aufgrund ihres teilweise bewundernswerten und auch im wahrsten Sinne des Wortes hart erarbeiteten Selbstbewusstseins: In der DDR waren kurz vor der Wende 78% aller Frauen im erwerbsfähigen Alter berufstätig (in der BRD nur 54%), 27% davon in Teilzeit (in der BRD 33%). Ihr Anteil an den Hochschulen lag auf allen Ebenen (von den Studierenden bis zu den Assistentinnen und Assistenten) zwar nie bei 50%, aber immer deutlich höher als im Westen; nur bei den Professorinnen waren’s dann im Westen wie im Osten wieder gleich wenig, nämlich 5%. Ihr Anteil an leitenden Positionen betrug immerhin 33%, und sie verdienten auch (prozentual gesehen!) mehr als die Frauen im Westen: nämlich 75% der Männerlöhne, Westfrauen nur 64%. Ost-Frauen trugen 40% des Familieneinkommens bei, West-Frauen lediglich 18%.
Wie im Westen waren Frauen im Osten dann aber in den „typisch weiblichen“ Erwerbsarbeitsbereichen Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen sowie im Einzelhandel über-, in „typisch männlichen“ Bereichen unterrepräsentiert.
Ostdeutsche Frauen waren – auch darüber herrscht weitgehend Einigkeit - die Wendeverliererinnen: „Obwohl Frauen in der DDR bis 1989 40 Prozent des Familieneinkommens erarbeiteten – die meisten in Vollzeitbeschäftigung –, waren zwei Jahre nach der Einheit 40 Prozent aller neuen Stellenangebote in Ostdeutschland ausdrücklich für Männer ausgeschrieben, elf für Frauen und nicht einmal die Hälfte geschlechterneutral.
Obwohl Ost-Frauen viel häufiger in klassischen Männerberufen vertreten waren, fiel auch dort ihr Anteil rasch auf das, was der Westen für normal hielt.
Weibliche Zimmerleute mussten auf dem Arbeitsamt hören, dass ‚Zimmermann‘ im neuen Deutschland wörtlich genommen wurde. Und die Älteren traf es besonders hart: Schon im März 1991 war die Zahl der 50- bis 60-jährigen Frauen auf dem Arbeitsmarkt um die Hälfte geschrumpft, von der verbliebenen Hälfte waren 30 Prozent arbeitslos.
Die „Welle von Arbeitslosigkeit“, die die Wirtschafts- und Währungsunion der beiden Deutschlands über den östlichen Teil schickte, und der Abbau von 40 Prozent aller bisherigen Arbeitsplätze ist zwar für Männer wie Frauen traumatisch gewesen. Für Frauen aber (…) war von allen strukturellen Nachteilen, unter denen sie litten, dieser eine der bedeutendste: ‚krasse Diskriminierung‘“.[15]
Hier stellt sich natürlich automatisch die Frage nach Frauen in Führungspositionen:
Während also politisch gewollt war, dass ostdeutsche Frauen in den Arbeitsmarkt integriert wurden, blieben die oberen Posten in Politik und Wirtschaft wie in Westdeutschland männlich besetzt. So sagte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem Interview mit der „ZEIT“: „Eine wirkliche Gleichberechtigung gab es auch in der DDR nicht. Dass nie ein Vollmitglied des Politbüros weiblich war, dass es keine Kombinatsleiterin gab, das zeigte doch, dass dort, wo die wichtigen Entscheidungen getroffen wurden, Männer saßen.“ Und diese Personen seien die prägenden Rollenmodelle gewesen, so Merkel. Frauen in Führungspositionen habe es hingegen kaum gegeben.
Doch warum gab es nicht mehr Frauen in Führungspositionen in der alten DDR und warum gibt es heute im vereinten Deutschland immer noch so wenig Frauen in Führungspositionen?
Warum haben in den neuen Bundesländern Frauen in der Wirtschaft zwar mehr zu sagen als in den alten, aber immer noch nicht genug? Zwar sind Frauen in der obersten Leitungsebene auch im Osten in der Minderheit, aber 26 % der ostdeutschen Betriebe werden von einer Frau geführt, im Westen sind es nur 20%.
Und in keiner Branche entspricht der Anteil der weiblichen Führungskräfte dem Anteil der weiblichen Beschäftigten, auch nicht im Gesundheits- und Sozialwesen, wo Frauen im Osten zwar rund 65% der Führungsstellen haben, nach der Firmenumfrage des Ostbeauftragten der Bundesregierung von diesem Jahr, aber glatt 90% haben müssten.
Warum also fehlen Frauen an der Spitze?
Da gibt es selbstverständlich zunächst die strukturellen Barrieren, mit denen Frauen zu kämpfen hatten und haben. Hierzu nur zwei Schlaglichter:
Da ist zum einen das Phänomen der „Selbstrekrutierung“ von Belegschaften bei Besetzungsverfahren. Man weiß inzwischen, dass Teams darauf bedacht sind, eine organische Einheit zu bleiben, dass also alles so läuft, wie immer. Und dies ist am besten gewährleistet, wenn sich die Teammitglieder ähnlich, am besten gleich sind. Insofern sind diese Selbstrekrutierungsmechanismen bei der Neubesetzung von Stellen zwar durchaus nachvollziehbar – welches Team holt sich schon gerne und v.a. freiwillig einen Fremdkörper ins Nest – und dabei werden alle objektiven Kriterien einer sich bewerbenden Person ausgeblendet. Das heißt ein Männerteam holt sich wieder einen Mann! Aber ich bitte zu beachten: Diese Selbstrekrutierungsmechanismen werden selbstverständlich auch in Frauenteams wirksam: welches gut funktionierende Frauenteam holt sich schon freiwillig einen Mann in die Teamberatungen…
Zweites Schlaglicht, das Sie wahrscheinlich nicht mehr hören können, das ist die sogenannte Vereinbarkeitsproblematik, genauer: das Problem mit der lieben Familie:
Ost-Frauen haben viel geleistet, nicht nur das gerade aufgezählte, sondern noch viel, viel mehr: in einer zweiten Schicht nämlich die Haus- und Familienarbeit.
Frauen arbeiten nahezu immer. Man muss sich tatsächlich fragen, wie Frauen die Zeit finden, sich nebenbei noch ehrenamtlich zu engagieren, sich vielleicht auch noch nebenbei für ihre Rechte einzusetzen, oder sich für die Rechte anderer zu engagieren.
Dazu wieder einige Zahlen: Vollzeiterwerbstätige Mütter leisteten zur Wendezeit im Osten in ihrer zweiten Schicht nochmal 5,2 Stunden (Westfrauen 6,2), Männer im Osten 2,5 Stunden (Westmänner 2,1). Aber denken Sie daran, was Frauen und Männer zuhause tun. Was Männer z.B. überhaupt nicht mögen zuhause ist alles, was mit Wasser und Nässe zusammenhängt, also waschen, wischen, Fenster oder Treppen putzen...
Und daran hat sich wenig geändert: Frauen sind noch immer hauptverantwortlich in der Kinderbetreuung, außerdem erledigen sie immer noch den Großteil der Hausarbeit. Demnach liegt der Anteil der Männer, die täglich kochen oder Hausarbeit verrichten, deutschlandweit bei 29 Prozent, während es bei den Frauen 72 Prozent sind[16].
Neben diesen strukturellen Barrieren gibt es aber tatsächlich auch persönliche Gründe dafür, dass Frauen sich GEGEN eine Führungs- und damit Machtposition entscheiden: Immer noch haben viele Frauen aufgrund ihrer Sozialisation Schwierigkeiten mit der Konkretion von Macht in ganz realen Alltagssituationen. Sie tun sich schwer mit einem gewissen Statusdenken, das für die Ausübung einer Spitzenfunktion unabdingbar ist. Status, die Stellung, die eine Person im Vergleich zu anderen Mitgliedern des jeweiligen Sozialsystems inne hat, wird angezeigt, wird zum Ausdruck gebracht, und zwar auf verschiedenen Kanälen. Der Ausdruck von Status dient dabei nicht nur der Orientierung für andere, also dafür, anderen anzuzeigen, mit wem sie es zu tun haben, sondern der Ausdruck von Status kann auch als Mittel der Durchsetzung, auch als Machtinstrument eingesetzt werden.
In einer gehobenen Funktion bedarf es nun einer gewissen Präsentation der eigenen Persönlichkeit. Vielen Frauen ist so etwas immer noch eher zuwider. Frauen gehen immer noch eher zögerlich um mit Statusanzeigen wie Verfügung über Raum oder Zeit, Körperhaltung, Mimik, Gestik, Körperschmuck und Kleidung.
Und: Frauen haben immer noch Schwierigkeiten, in der Öffentlichkeit laut, klar und deutlich und vor allem direkt zu sagen, was sie fordern[17]. Darüber sollten wir nachdenken, und daran können wir arbeiten!
Trotzdem also einige Frauen immer noch Schwierigkeiten damit haben, Macht auszuüben - was viele Frauen gerne tun, ist MACHEN! Und Sie haben gemacht, sehr geehrte, liebe Frau Nickich.
Ich darf schließen mit einer Bitte an Sie: machen Sie mit Macht weiter!
[1]Bundesjugendkuratorium, Schlaue Mädchen – Dumme Jungen. Gegen Verkürzungen im aktuellen Geschlechterdiskurs, Bonn 2009; Stefan Kühne, Wie sich das Bildungssystem verändert, bpb Dossier Bildung 9/2013
[2] Ebd.
[3] “Frauen und die Mathematik”, Sächsische Zeitung vom 26.10.2006
[4] vgl. Ursula Kessels, Geschlechtsunterschiede in der Schule. Wie die Identitätsentwicklung Jugendlicher mit ihrem schulischen Engagement interagiert, in: Elke Kleinau et al. (Hg.), Gender in Bewegung, Bielefeld 2013, S. 91-106, S. 99
[5] Ebd., S. 101
[6] Vgl. Aktionsrat Bildung, Geschlechterdifferenzen im Bildungssystem – die Bundesländer im Vergleich, 2009
[7]Vgl. Marianne Kosmann, Mädchen heute – Lebenslagen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Vortrag beim 10. Vernetzungskongress Mädchenarbeit in NRW am 16.10.2008; S. 10
[8] Dritter Sächsischer Kinder- und Jugendbericht, hg. Vom Sächsischen Staatsministerium für Soziales, Dresden 2008, S. 81
[9] Jugend 2009, S. 214f
[10] Florian Peters, Duale Ausbildung in Sachsen 2012 bis 2016 – ausgewählte Ergebnisse der Berufsbildungsstatitik, Statistisches Landesamt Sachsen, Fachbeitrag 9/2017.
[11] Ebd.
[12] StaLa Sachsen, Statistischer Bericht. Kennzahlen für die Hochschulen im Freistaat Sachsen 2017
[13] Lenz, Cesca, Pelz, Lehramtsstudium in Sachsen, Dresden 2018
[14] Bundesjugendkuratorium, Schlaue Mädchen – Dumme Jungen. Gegen Verkürzungen im aktuellen Geschlechterdiskurs, Bonn 2009, S. 2
[15] Dernbach, Andrea, 25 Jahre Deutsche Einheit. Die vergessenen Ostfrauen, www.tagesspiegel.de 1.12.2014
[16] Statista, So ungleich ist Hausarbeit verteilt, 08.03.2019
[17] Gräßel, Ulrike, Weibliche Kommunikationsfähigkeit - Chance oder Risiko für Frauen an der Spitze?, In: Adam, Eva und die Sprache. Beiträge zur Geschlechterforschung. Duden Redaktion (Hg.), Thema Deutsch, Band 5, Mannheim et al. 2004, S. 59-68