Neuigkeit 24. Juli 2024

Solidarität statt Kahlschlag: Für eine faire Förderung der Zivilgesellschaft in Sachsen

Positionspapier: Solidarität statt Kahlschlag. Für eine faire Förderung der Zivilgesellschaft in Sachsen
Während sich die autoritäre Verschiebung verschärft und die Landtagswahl ihren Schatten voraus wirft, befinden sich die Träger und Projekte der sächsischen Integrationslandschaft in einer Krise.¹ Eine Vielzahl an Projekten konnte in den letzten Monaten nicht oder nur eingeschränkt arbeiten, ein wichtiger zivilgesellschaftlicher Träger musste Insolvenz anmelden.

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Positionspapier: Solidarität statt Kahlschlag

Für eine faire Förderung der Zivilgesellschaft in Sachsen

Während sich die autoritäre Verschiebung verschärft und die Landtagswahl ihren Schatten voraus wirft, befinden sich die Träger und Projekte der sächsischen Integrationslandschaft in einer Krise.¹ Eine Vielzahl an Projekten konnte in den letzten Monaten nicht oder nur eingeschränkt arbeiten, ein wichtiger zivilgesellschaftlicher Träger musste Insolvenz anmelden. Langjährige Mitarbeiter*innen mussten in die Arbeitslosigkeit entlassen werden. Die Folgen sind weitreichend und zeigen sich am Offensichtlichsten im Wegbrechen von zentralen Beratungs- und Unterstützungsangeboten für gesellschaftlich benachteiligte Personengruppen. Sie gefährden aber auch den sozialen Zusammenhalt insgesamt. Der Grund für diese Entwicklung liegt in den geänderten Förderregularien des Landes. Es droht ein Kahlschlag in der sächsischen Integrationslandschaft. Diese Entwicklung ist ein nicht hinnehmbarer Rückschritt, gegen den wir uns als zivilgesellschaftliche Träger der Integrationsarbeit positionieren.

Hintergrund

In Sachsen gelten die meisten Beratungs- und Unterstützungsangebote im Arbeitskontext Migration und Integration als „freiwillige Aufgaben“ und sind nicht gesetzlich verankert. Sie stehen damit nicht nur permanent zur Disposition, wenn es um Haushaltsverhandlungen geht, sondern müssen auch seit jeher mit prekären Rahmenbedingungen und unter zunehmend widrigen Umständen – um Anerkennung, Wertschätzung, und vor allem ihre existenzielle Grundlage kämpfen. Größtenteils handelt es sich dabei um staatliche Zuwendungen als Projektfinanzierung, was schon per Definition einer regelfinanzierten Struktur widerspricht, die Migrationsthemen dringend brauchen.²

Als sich die Anzahl an Schutzsuchenden 2015 erhöhte, stieg auch in Sachsen der gesellschaftliche Bedarf an Integrationsarbeit. Das Sächsische Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt (SMS) reagierte darauf mit der Erstellung der Förderrichtlinie „Integrative Maßnahmen“. Diese Richtlinie ist regelmäßig stark überzeichnet, sodass schon immer viele Förderanträge abgelehnt werden. Der Bedarf ist jedoch groß, die Finanzierung der Projekte unsicher und nie ausreichend. Die Spanne der so geförderten Projekte reicht von psychosozialen Zentren über Asyl- und Fachberatungsstellen, Begegnungsprojekte und Jugendangebote.

Aktuelle Entwicklungen

Der Sächsische Rechnungshof (SRH) hat viele der seit 2016 getroffenen Förderentscheidungen des Sozialministeriums bzw. der Sächsischen Aufbaubank (SAB) einer Tiefenprüfung unterzogen. Die Ergebnisse wurden 2023 in einem Sonderbericht veröffentlicht und enthielten eine Reihe an Kritikpunkten: Neben Interessenkollisionen, intransparenten Vergabeverfahren und fehlenden Bedarfsanalysen wird unter anderem die fehlende „politische Neutralität“ der Träger bemängelt.

Das hatte personelle Konsequenzen innerhalb des Ministeriums zur Folge und auch eine Verzögerung der Novellierung der Förderrichtlinie, die am 24.11.2023 als „Übergangsrichtlinie“ in Kraft trat. Dieses Handeln des SMS hat die Träger vor kaum zu bewältigende Herausforderungen gestellt: Alle bereits zum Juli gestellten Anträge für Projekte ab 01.01.2024 mussten innerhalb von drei Wochen neu gestellt werden. Dabei musste sich an der völlig veränderten Richtlinie orientiert werden, mit erheblichen Auswirkungen auf den Charakter der konzipierten Angebote. Ein Teil der zuvor förderfähigen Projektformen kommt in der novellierten Richtlinie gar nicht mehr vor, obwohl die Bedarfe unverändert bestehen. Die Übergangsrichtlinie ist zudem nur bis 31.12.2024 gültig, sodass ausschließlich Projekte mit einjähriger Lauf- und Wirkungszeit beantragt werden konnten. Die Entwicklung einer langfristig gültigen Richtlinie steht noch aus und derzeit scheint es völlig offen zu sein, ob und wann eine solche beschlossen wird.

Die betroffenen Träger konnten ihrer Arbeit über Monate hinweg kaum oder nicht mehr nachgehen, da sie zum einen mit der bürokratischen Kraftanstrengung der kurzfristigen neuen Anträge beschäftigt waren; zum anderen entstand eine mehrmonatige Förderlücke zu Beginn des Jahres 2024, die einige Projekte bzw. Träger in ihrer Existenz bedrohte. Für die bewilligten Projekte wurden teilweise erst im März 2024 die Fördersummen bekannt gegeben. Zudem erhielten etwa die Hälfte der 71 eingereichten Projekte Ablehnungsbescheide.

Die Folgen

Die Folgen dieses politischen Handelns tragen längst nicht nur die betroffenen Träger. Tatsächlich ist eine Vielzahl gesellschaftlicher Bereiche in Sachsen betroffen.

1. Folgen für die Ratsuchenden

Die Beratungs- und Unterstützungsangebote der Trägerlandschaft wurden in ganz Sachsen von unzähligen Menschen angenommen. Von der Asylberatung über transkulturelle Begegnungszentren, der sozialpsychiatrischen Betreuung von Kindern und Jugendlichen bis hin zu Projekten zur Stärkung von Zivilcourage im ländlichen Raum. Vielfältige Angebote wie diese sind für Integrationsarbeit essentiell. Hier stehen für geflüchtete und immigrierte Menschen Ansprechpartner*innen bereit, die eine erste und weiterführende Orientierung bieten, was einen zentralen Faktor für gelingende Integration darstellt.⁴ Die Bildungsintegration Heranwachsender wird durch außerschulische Angebote verbessert.⁵ Das können die Kulturveranstaltungen des interaction e.V. in Leipzig, die Projekte für Frauen des *sowieso* in Dresden oder der Neue Nachbarn e.V. in Bautzen sein, deren Projekte allesamt keine Förderung erhalten. In Orten wie diesen entsteht sozialer Anschluss, neben den Zugängen zu Arbeit und Bildung und der infrastrukturellen Anbindung ist das einer der wichtigsten Integrationsfaktoren.⁴

Allerdings mussten schon durch die zeitraubende Bindung an die Antragstellung und aufgrund der Förderlücken Anfang des Jahres zahlreiche Ratsuchende abgewiesen und Begegnungsangebote eingestellt werden. In der Jugend- und Familienarbeit gehen Bezugspersonen verloren. Möglichkeiten zum Erwerb sprachlicher Kompetenzen jenseits von Sprachkursen werden eingeschränkt. Durch das drohende Wegbrechen dieser Angebote werden marginalisierte Menschen mit teils existentiellen und menschenrechtsrelevanten Problemen, die nur mit professioneller Unterstützungsarbeit geklärt werden können, allein gelassen.

2. Folgen für die Träger und ihre Mitarbeiter*innen

Die Träger sind gezwungen, Mitarbeiter*innen unter prekären Bedingungen zu beschäftigen oder zu entlassen. Prekär sind die Arbeitsbedingungen insofern, als dass sie durch fehlende finanzielle Sicherheit und unklare Zukunftsperspektiven geprägt sind. Für die Mitarbeiter*innen stellt dies eine hohe psychische Belastung dar. Für die Träger bedeutet der Verlust von Mitarbeiter*innen nicht nur einen Verlust von Arbeitskraft, sondern auch von Expertise und Erfahrung. Auch langjährig aufgebaute lokale und regionale Netzwerke und Beziehungen gehen so verloren. Ein nachhaltiges Arbeiten wird so unmöglich.

Die aufgezwungene Prekarität der Arbeitsbedingungen macht die Träger zudem als Arbeitgeber*innen unattraktiv, was die Suche nach neuen Mitarbeiter*innen erschwert.

3. Folgen für Behörden

Die Träger und Projekte leisten mit ihrer Arbeit auch einen Mehrwert für die sächsischen Behörden. Es entlastet die praktische Arbeit der Behörden, wenn Menschen mit Migrationsgeschichte gut beraten und begleitet sind. Dies wird von den Behörden als solches erkannt und wertgeschätzt, zum Beispiel in dem sie auf diese Projekte verweisen.

Die zu kurzfristigen und häufigen Novellierungen und die ausschließlich kurzzeitige Projektförderung bedeuten einen erheblichen Mehraufwand für die sächsischen Behörden.

4. Folgen für die sächsische Integrationslandschaft 

Integrationsarbeit kann nur gelingen, wenn langfristige und vielfältige Strukturen bestehen. Nur in diesen Netzwerken und Kooperationen zwischen verschiedenen Akteuren können wichtiger Erfahrungsaustausch gewährleistet und schnell Lösungen gefunden werden. Für erfolgreiche lokale Integrationspolitiken ist dies zentral.⁶ Auch für den Vertrauensaufbau zu Klient*innen ist längerfristiger Kontakt essentiell.

Die Integrationslandschaft in Sachsen mit ihren Vereinen, Trägern und Projekten muss als normaler Teil der Gesellschaft verstanden werden. Migration gehört zu einer globalisierten Welt dazu. Dafür ist ein vielfältiges Angebot für Personengruppen in verschiedenen Lebenslagen notwendig. Unter den Bedingungen einer unsteten und prekären Landesförderung können solche Strukturen nicht aufgebaut werden.

5. Folgen für sozialen Zusammenhalt

Der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft ist von gelingender Integrationsarbeit abhängig. Durch erfolgreiche Integrationsarbeit kann eine Vielzahl von positiven Effekten eintreten, wie eine Belebung des ländlichen Raums. Ob die Kommunen als unterschätzte Orte der Erstintegration dabei erfolgreich sind, ist abhängig von den lokalen Bedingungen – gibt es Orientierungsangebote vor Ort, Zugänge zu Arbeit und zu Bildung? Welche Begegnungsorte gibt es? Diese Faktoren tragen zu gelingender Integration bei und machen Sachsen außerhalb der großen Städte attraktiv.⁴ 

Eine Vielzahl der geförderten Träger sind außerhalb der sächsischen Großstädte oder sachsenweit tätig und arbeiten in diese Richtung.

Hingegen hat eine nicht-funktionierende Integrationslandschaft fatale Folgen für den sozialen Zusammenhalt. Es drohen weitere Ausschlusserfahrungen, Politik- und Demokratieverdrossenheit, sowie Resignation und sozialer Abstieg. Auch das rassistisch-stereotype Bild von „integrationsunfähigen Migrant*innen“ wird so verstärkt.

Wenn weiterhin an den falschen Stellen gespart wird, wird es für Staat und Gesellschaft in Zukunft richtig teuer: Weniger Möglichkeiten zu Integration und Bildung bedeuten schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Dies zieht weniger Beiträge in die Sozialkassen nach sich, bis hin zu dauerhafter Abhängigkeit von finanzieller staatlicher Unterstützung. Im Ergebnis werden Menschen mit Migrationsgeschichte zur Belastung erklärt, anstatt die mangelnde Kompetenz des Staates im Umgang mit Migration und Integration zu benennen.

6. Folgen für die demokratische Gesellschaft

Die letzte Novelle der Förderrichtlinie Integrative Maßnahmen brachte für die Antragssteller*innen zusätzliche Vorgaben im Hinblick auf politische Neutralität. Konkret heißt das: Die Zuwendungsempfänger sind im Hinblick auf die geförderten Maßnahmen während des gesamten Förderzeitraums zur parteipolitischen Neutralität verpflichtet. Außerdem werden keine Maßnahmen gefördert, die „sich politischen Aktivitäten widmen“⁷. Was darunter jeweils genau zu verstehen ist, ist letztlich eine Frage der Auslegung. Diese unklar formulierte Passage führt zu Unsicherheit bei Antragssteller*innen, weil das Risiko besteht, eine erhaltene Förderung zurückzahlen zu müssen. 

In seinem Sonderbericht zur Richtlinie hat der Sächsische Rechnungshof Beispiele aus vergangenen Förderperioden, in denen diese Vorgaben nicht galten, benannt, die seiner Rechtsauffassung nach die Grenzen (partei)politischer Neutralität überschreiten – von der Öffentlichkeitsarbeit bis hin zu einzelnen Buchkäufen. Er sieht zudem einen Teil der geförderten Vereine nicht als „politisch und neutral unabhängige Akteure der Zivilgesellschaft“⁷, die daher, so seine Auffassung, immer Gefahr laufen, unzulässigen Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen.Übernähme man bei bei anstehenden Novellierungen der Förderrichtlinie die Rechtsauffassung des SRH, wäre das ein schwerer Einschnitt in das Grundrecht aller Antragssteller*innen, sich politisch zu äußern. Das wäre ein Schaden für den demokratischen Diskurs und eine Gefahr für die Meinungsfreiheit.

Fazit – Forderungen – Handlungsaufruf

Es wird deutlich, dass die Integrationsarbeit in Sachsen nicht nur durch Akteure des extrem rechten Spektrums gefährdet ist. Vielmehr ist die finanzielle Förderung und damit ein ganzes Netzwerk aus Projekten und Organisationen auf Sand gebaut. Das muss sich ändern!

Wir fordern:

  • Anerkennen, dass Migration und Integration notwendige und normale gesellschaftliche Prozesse sind, die entsprechend begleitet werden müssen.

  • Anerkennen von Bedarfen der Integrationsarbeit in Form einer sicheren, langfristigen und nachhaltigen Förderpraxis.

  • Verbindliche Kommunikation seitens des SMS und der SAB

  • Klarstellung, dass politische Aktivitäten im Rahmen der gemeinwohlorientierten Zwecke unschädlich sind

Was können Sie als Bürger*in und zivilgesellschaftliche Organisation tun?

  • Unterstützen Sie die Träger und Projekte vor Ort. Diese Unterstützung kann vielfältig gestaltet sein: neben ehrenamtlicher Arbeit, Vereinsmitgliedschaften oder Spenden hilft auch die Lobbyarbeit in Bekanntenkreisen und am Stammtisch.

  • Sprechen Sie Lokalpolitiker*innen auf die Integrationsarbeit in Sachsen an. Informieren Sie diese über die Situation und bringen Sie die Forderungen der Träger in den Büros, per E-Mail oder Telefon nahe.

  • Bringen Sie sich in Ihren Netzwerken ein!

Die Kampagne Solidarität statt Kahlschlag ist ein Zusammenschluss verschiedener zivilgesellschaftlicher Träger der Integrationsarbeit in Sachsen.

Unter www.solidaritaetstattkahlschlag.de gibt es Videos und weitere Infos.

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